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Tomatensuppe und Superkleber

Ein Plädoyer für den evidenzbasierten Diskurs zur Klimakrise in der Medizin. Aus unserer Serie "Umweltmedizin: Klimawandel & Gesundheit"

Von Dr.med.univ. Johanna Schauer-Berg, MPH | med.ium 1+2/2023 | 15.2.2023

Auf der Fahrbahn festgeklebte AktivistInnen in den Morgennachrichten, Mittagessen im T-Shirt auf der Terrasse am Neujahrstag bei strahlendem Sonnenschein ohne einen Hauch von Schnee, Gespräche mit Nachbarn, ob man die Verglasung von Kunstwerken mit Tomatensuppe übergießen darf und neue Rezepte für vegane Würstchen am Grill, der Klimawandel ist als Gesprächsthema allgegenwärtig. Vertrauen auf
technische Errungenschaften, um das Problem zu lösen, alles kann dann so bleiben wie es ist. Transformation der Gesellschaft, aber dabei geht es nicht schnell genug. Klimawandel ist ein natürliches Phänomen und die Spezies Mensch hat nichts damit zu tun.

Die Meinungen sind vielfältig – die Erderwärmung erhitzt die Gemüter!

Von Seiten der Evidenz jedoch ist die Ursache recht eindeutig: Seit Beginn des industriellen Zeitalters hat sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre durch den Einfluss des Menschen um 50% erhöht und ist somit um 150% höher als 1750. Das lässt sich in Bohrkernen aus dem (derzeit noch vorhandenen) Permafrostboden messen und ist die höchste Konzentration seit Ende der letzten Eiszeit vor 20.000 Jahren.(1) Hinzu kommen noch weitere Treibhausgase wie Methan, Distickstoffdioxid (Lachgas), Fluorkohlenwasserstoffe, Wasserdampf, Aerosole, Rußpartikel und so weiter.

Auch wenn es insgesamt ein sehr komplexes System ist und Zukunftsprognosen somit äußerst kompliziert sind, lässt sich das Grundprinzip so zusammenfassen: Wenn die quantitative Menge der  Treibhausgase in der Atmosphäre eine Grenze übersteigt, erwärmt sich die Erde durch physikalische Prozesse so stark, Kipppunkte überschritten werden. Das bedeutet, dass kaskadenartig sich  selbstverstärkende und unumkehrbare Prozesse in Gang gesetzt werden, die zu einer immer weiteren Erhöhung der Temperatur führen. Diese liegen dann außerhalb des menschlichen Einflusses, selbst wenn die Treibhausgas-Emissionen auf Null reduziert werden würden.(2) Ein Beispiel für ein Kippelement wäre das Abschmelzen des arktischen Eisschildes, welches derzeit das Sonnenlicht reflektiert und so das klimatische System stabilisiert. In einer in Science publizierten Studie vom September 2022 kommen Armstrong McKay et al. zu dem Schluss, dass wahrscheinlich bereits im vom Pariser Klimaabkommen angestrebten Bereich von 1,5°C bis max. 2°C Erderwärmung sechs dieser Kippelemente überschritten werden.(3)

Aber wie sieht es nun mit den medizinischen Folgen der Klimaveränderung aus?

Im September 2022 wurde der Fortschrittsbericht zur Strategie zur Anpassung an den Klimawandel 2050 des Landes Salzburg durch die Arbeitsgruppe Klimawandelanpassung veröffentlicht. Sie kommt zu dem Schluss, „dass der Klimawandel in den letzten Jahren rascher fortgeschritten ist, als bisher angenommen und sowohl die bisherigen als auch die künftig erwarteten Auswirkungen auch für Salzburg gravierender waren bzw. sein werden, als bisher angenommen“.(4)

Weiters ist dem Dokument zu entnehmen: „Die schwerwiegendsten gesellschaftlichen Folgen des Klimawandels betreffen in Salzburg den Gesundheitsbereich. Aufgrund der Zunahme von Hitzeperioden und einer gleichzeitig alternden Gesellschaft, die ein höheres gesundheitliches Risiko bei Hitze aufweist, ist der öffentliche Gesundheitssektor hier vor große Herausforderungen gestellt.“(4)

Schwerwiegende gesellschaftliche Folgen im Gesundheitsbereich

Die angeführten Veränderungen in der Prognose bis 2030 umfassen neben der Zunahme der Hitzebelastung und Zunahme der Hitzemortalität, das Auftreten neuer Krankheitserreger, die Förderung heimischer Krankheitserreger, die Ausbreitung allergener Pflanzen und Tiere, die Veränderung der Pollensaison, -menge und -allergenität, die Zunahme der durch Nahrungsmittel und Wasser übertragenen Erkrankungenn sowie Änderungen im Freizeitverhalten. Die Zunahme der Hitzebelastung ist dabei als größtes Risiko anzusehen, insbesondere im Zentralraum Salzburg (Flachgau, Stadt Salzburg und Teile des Tennengau)  sowie in Tallagen des Innergebirges. Auch eine Erhöhung der Sterblichkeit während Hitzewellen ist zu erwarten.(5) Laut dem APCC Special Report 2018 sind in Österreich bei moderater Klimaveränderung bis
2030 400 zusätzliche Todesfälle pro Jahr zu erwarten, bis 2050 hingegen bereits mehr als 1000 pro Jahr.(6)

Die Veränderungen bei den Krankheitserregern versucht eine in Nature Climate Change publizierte Arbeit vom August 2021 von Camilo Mora et al. zu quantifizieren. Mehr als die Hälfte (58%) der untersuchten 375 infektiösen Erkrankungen wurden durch die steigenden Treibhausgaskonzentrationen und assoziierte Veränderungen (Erderwärmung, Überflutungen, Dürre, Veränderung des Meeresspiegels etc.) negativ beeinflusst. Das umfasst unter anderem die Ausbreitung von wasserbezogenen Erkrankungen, beispielsweise nach Überflutungen durch Kontamination von Trinkwasser oder beispielsweise die Vermehrung von Vibrionen in wärmer werdenden Flächengewässern. Nahrungsmittelbezogene Infektionen durch unzureichende Kühlung sind ein Risiko bei Hitzewellen, die Ausbreitung von neuen Vektoren, insbesondere Mücken, aber auch die Vermehrung von heimischen Arten (bei uns beispielsweise Zecken) machen sich bereits jetzt bemerkbar.(7)

Bei den Allergien wird aufgrund der Klimaveränderungen ein rasanter Anstieg und ein höherer Schweregrad prognostiziert – es wird geschätzt, dass bis 2030 die Hälfte der europäischen Bevölkerung betroffen sein wird. Das hängt einerseits mit der Ausbreitung allergener Pflanzenarten wie beispielsweise Ambrosia zusammen, andererseits kommt es durch veränderte Vegetationsperioden zu höherer und längerer Pollenbelastung. Insbesondere in Kombination mit Luftschadstoffen wie Stickoxiden, Feinstaub und Ozon ist auch mit einem Anstieg pulmologischer Erkrankungen beispielsweise Asthma zu rechnen.(6) 

Auch was die psychische Gesundheit anbelangt, zeigen sich Auswirkungen. Nach Extremwetterereignissen kommt es zu einem Anstieg von posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen. Weiters gibt es zunehmend mehr Evidenz, dass es bei der Auseinandersetzung mit dem Klimawandel zur psychischen Überforderung kommen kann. Besonders stark ausgeprägt sind klima- und umweltbezogene Ängste in der Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Frage der Krankheitswertigkeit ist dabei nicht restlos geklärt.(8)

Es drängt sich also die Schlussfolgerung auf: unsere ärztliche Praxis und die Patientenversorgung wird bereits von den Klimaveränderungen beeinflusst!

Anzahl vulnerabler Personen aufgrund der demographischen Entwicklung steigt

Aggravierend sollte man noch hinzuzählen, dass die Anzahl der vulnerablen Personen (insbesondere für Hitze) aufgrund der demographischen Entwicklung im Steigen begriffen ist. Wenn man aktuelle Beobachtungen als Vorzeichen nimmt, kommt einen das Gruseln sobald man an das zukünftige Patientenaufkommen denkt. Der Gesundheitssektor leidet bekanntermaßen bereits jetzt unter Personalmangel  und abgesehen von Einzelprojekten liegen derzeit keine proaktiven Pläne von politischer Seite vor, um den Gesundheitssektor klimaresilient zu machen.

Wie groß ist eigentlich der Anteil des Medizinsektors an den Treibhausgasemmissionen?

„If the global health care sector were a country, it would be the fifth-largest greenhouse gas emitter on the planet.“(9)

Der Gesundheitssektor verursachte 2014 in Österreich 7% des nationalen CO2-Fußabdrucks und lag damit deutlich über dem Durchschnitt anderer OECD-Länder. Ein Drittel des gesamten Fußabdrucks wird in Krankenhäusern verursacht, an erster Stelle durch medizinische Produkte und Arzneimittel, gefolgt vom Energiekonsum.(10)

Wir müssen daher nicht nur mit den Auswirkungen der Klimakrise zurechtkommen,  sondern tragen in der Patientenversorgung auch erheblich zur Emission von Treibhausgasen und somit zu den Gesundheitsfolgen bei.

Es stellt sich also die Frage: Was tun?

Aus umweltmedizinischer Sicht hat die Reduktion des Treibhausgasausstoßes oberste Priorität. Dazu kann jede/r Einzelne zum Klimaschutz beitragen, beispielsweise durch die Verschreibung von Trockenpulver-Inhalatoren statt Fluran-haltigen Dosieraerosolen (wo möglich) oder Umstieg auf einen Ökostrom-Anbieter für die eigene Ordination. Man stößt aber auch an Grenzen – wie bereits angeführt, kommt der Großteil des Treibhausgasausstoßes in der Patientenversorgung aus dem Konsum medizinischer Produkte und Arzneimittel. Wir sind hier in unserem individuellen Einflussbereich von der Verfügbarkeit, d.h. Produktion und Lieferkette, abhängig. Trotzdem können wir hier unnötigen Konsum, Überdiagnostik und Übermedikation vermeiden. Davon profitieren nicht nur „das Klima“, sondern insbesondere unsere PatientInnen. Im Oktober 2022 wurde der neue internationale Code of Medical Ethics durch den Weltärztebund verabschiedet. Der neue Paragraph 12 lautet:

„The physician should strive to practise medicine in ways that are environmentally sustainable with a view to minimising environmental health risks to current and future generations.“(11)

Um diesen Leitgedanken in unsere ärztliche Praxis zu integrieren, sollten wir einen Schritt weiter gehen und im Patientengespräch Einflussfaktoren des Klimawandels berücksichtigen. Als Ärztinnen und Ärzten kommt uns eine besondere Rolle zu, unsere Patienten für die Auswirkungen auf den eigenen Körper zu sensibilisieren und ihnen bei gesundheitlichen Folgen der Klimaveränderungen zur Seite zu stehen.

Ein weiterer Aspekt in der klimasensiblen Patientenberatung ist die Klimawandelanpassung, d.h. die Schulung des Umgangs mit den nicht mehr vermeidbaren Auswirkungen. Hier braucht es zum Beispiel kompetente Aufklärung vulnerabler Personen über Anpassung von Verhaltensweisen bei Hitzephasen, um unnötige Spitalseinweisungen zu vermeiden. Aber auch die Adaptation von Medikamentendosierungen, denn einige Wirkstoffe beeinflussen die Thermoregulation und die Schweißproduktion oder verändern aufgrund der Darreichung (transdermale Pflaster) bei höheren Temperaturen ihre Pharmakokinetik.

Tomatensuppe auf Schutzverglasungen zu schütten und Staus auszulösen holt den Klimawandel auf die mediale Bühne. Um das Problem zu lösen, braucht es jedoch eine evidenzbasierte Herangehensweise auf allen Ebenen.

Uns entsprechend weiterzubilden und unsere PatientInnen adäquat zu beraten ist Teil unserer ärztlichen Verantwortung: Steigen wir ein in den Diskurs zum Klimawandel – aus Sicht der Medizin!

„If the global health care sector were a country, it would be the fifth-largest greenhouse gas emitter on the planet.“ (9)

„Die schwerwiegendsten gesellschaftlichen Folgen des Klimawandels betreffen in Salzburg den Gesundheitsbereich.“

Quellen

  1. Carbon Dioxide | Vital Signs – Climate Change: Vital Signs of the Planet (nasa.gov) [15.01.2022]
  2. Lenton TM, Held H, Kriegler E, Hall JW, Lucht W, Rahmstorf S, Schellnhuber HJ. Tipping elements in the Earth's climate system. Proc Natl Acad Sci U S A. 2008 Feb 12;105(6):1786-93. doi: 10.1073/pnas.0705414105. Epub 2008 Feb 7. PMID: 18258748; PMCID: PMC2538841.
  3. Armstrong McKay DI, Staal A, Abrams JF, Winkelmann R, Sakschewski B, Loriani S, Fetzer I, Cornell SE, Rockström J, Lenton TM. Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points. Science. 2022 Sep 9;377(6611):eabn7950. doi: 10.1126/science.abn7950. Epub 2022 Sep 9. PMID: 36074831.
  4. Land Salzburg | Abteilung 5 Natur- und Umweltschutz, Strategie zur Anpassung an den Klimawandel in Salzburg (Hrsg.) Erster Fortschrittsbericht der Arbeitsgruppe „Klimawandelanpassung“. April 2022
  5. Land Salzburg | Abteilung 5 Natur- und Umweltschutz, Strategie zur Anpassung an den Klimawandel in Salzburg (Hrsg.) Strategie zur Anpassung an den Klimawandel in Salzburg 2050. Mai 2017
  6. Haas W, Moshammer H, Muttarak R, Koland O (Hrsg.) Österreichischer Special Report Gesundheit, Demographie und Klimawandel Austrian Panel on Climate Change (APCC) Austrian Special Report 2018 (ASR18) Zusammenfassung für Entscheidungstragende und Synthese. Verlag der ÖAW. Wien. 2019; ISBN 978-3-7001-8427-0
  7. Mora C, McKenzie T, Gaw IM, Dean JM, von Hammerstein H, Knudson TA, Setter RO, Smith CZ, Webster KM, Patz JA, Franklin EC. Over half of known human pathogenic diseases can be aggravated by climate change. Nat Clim Chang. 2022;12(9):869-875. doi: 10.1038/s41558-022-01426-1. Epub 2022 Aug 8. PMID: 35968032; PMCID: PMC9362357.
  8. Nikendei C. „Psychische Belastungen und mentale Gesundheit“ In Traindl-Hoffmann C, Schulz C, Herrmann M, Simon B. (Hrsg.), Planetary Health -Klima, Umwelt und Gesundheit im Anthropozän, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin. 2019; ISBN 978-3-95466-650-8
  9. Kaliner J, Slotterback S, Boyd R, Ashby B, Steele K. Healthcare’s climate footprint, How the health sector contributes to the global climate crisis and opportunities for action. Health Care Without Harm, Climate-smart health care series Green Paper Number One, September 2019
  10. Weisz U, Pichler PP, Jaccard IS, Haas W, Matej S, Nowak P, Bachner F, Lepuschütz L, Windsperger A, Windsperger B, Weisz H. Der Carbon Fußabdruck des österreichischen Gesundheitssektors. Endbericht. Klima- und Energiefonds, Austrian Climate Research Programme, Wien. 2019
  11. WMA International Code of Medical Ethics – WMA – The World Medical Association [15.01.2022]