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Aus- und Fortbildung

Silver Society – Altersmedizin neu gedacht

Mit dem Vortrag des steirischen Facharztes für Geriatrie Univ.-Prof. Dr. Gerhard Wirnsberger hat die neue Aus- und Fortbildungssaison – Fokus Altersmedizin – begonnen. Aus unserer Serie "Altersmedizin"

Von Mag. Christoph Schwalb | med.ium 9+10/2023 | 17.10.2023

Anfang Oktober startete die neue Saison der medizinischen Abendfortbildung, die ganz im Zeichen der Altersmedizin steht. Fortbildungsreferent Dr. Klaus Kubin durfte den steirischen Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie am LKH Graz Univ.-Prof. Dr. Gerhard Wirnsberger in der Ärztekammer für Salzburg begrüßen.

Mit seinem provokant-aufklärerischen Vortrag „Silver Socitey – Altersmedizin neu gedacht“ machte der gleichzeitige Fortbildungsreferent der Ärztekammer Steiermark Prof. Wirnsberger den Auftakt zur heurigen Fortbildungsreihe. Sein Ziel: potenzielle Interessenskonflikte in der Altersmedizin aufzeigen und deren hohen Stellenwert besonders im englischsprachigen und skandinavischen Forschungsraum – im Gegensatz zum deutschsprachigen – hervorzuheben. Dazu zitierte er die Professorin und Head of Ageing and Health an der University of Dundee Marion McMurdo: 

„Alt sein ist jener Punkt, an welchem die meisten medizinischen Disziplinen das Interesse an dir verlieren.“

Von der Alterspyramide zur Altersurne: Multimorbidität vs. Funktionalität

Er legte dar, dass ab 2050 jeder vierte Mensch in Österreich über 65 Jahre alt sein wird. Die Medizin hierzulande sollte daher Altern und Arbeitsumfeld mehr beleuchten. Die gestiegene Lebenserwartung, aber auch zunehmende Altersarmut gilt es besonders zu berücksichtigen. Im Rahmen dessen sollte über „alter(n)sgerechte Arbeitsmodelle“ nachgedacht werden. Über 80.000 Menschen in Österreich werden schon heute in Vollpflegeeinrichtungen versorgt, Tendenz deutlich steigend. Ein isoliertes Leben im Alter fördere u.a. das Risiko für Malnutrition, Immobilisierung steigere Muskelschwund, so Wirnsberger.

In den etzten Lebensjahrzehnten ist unsere Lebenserwartung kontinuierlich gestiegen, anderseits nehmen die gesunden Jahre ab. Insbesondere beim Thema gesunde Ernährung gibt es große Defizite. Wichtig sei laut Wirnsberger, Essgewohnheiten dem Alter anzupassen und einer Mangelernährung vorzubeugen – wenn nötig mit Ernährungszusatz: mehr (pflanzliche) Proteine (bereits ab dem 40. Lebensjahr) und weniger Kohlenhydrate zu sich nehmen, mehr trinken. Auch ein wechselndes Blutdruckverhalten und eine erhöhte Insulinresistenz machten sich im Alter bemerkbar. Bei Untersuchungen zählt Wirnsberger das Serum-Präalbumin zum Standardmarker zur Beurteilung des Eiweißstoffwechsels.

Drehtüreffekt minimieren

Eine altersgerechte Medizin sei im Interesse der Gesundheitsversorgung, um dem „Drehtüreffekt“ in Kliniken vorzubeugen. Hohe Wiedereinweisungsraten aufgrund der demografischen Entwicklung gelte es zu vermeiden, um geriatrischen PatientInnen bedarfsgerecht zu helfen und Patientenströme zielgerichteter zu lenken. Man könne einen 60-jährigen nicht wie einen 30-jährigen Patienten behandeln, so Wirnsberger.

Auch die mit chronischen Erkrankungen verbundene Multimedikation sowie geriatrische Syndrome spielen eine wesentliche Rolle. Gerade in der „Welt der Guidelines“ gebe es kaum welche, die stimmig sind mit den Anliegen alternder, geriatrischer PatientInnen. Multimorbidität und Funktionalitätsstörungen wie das Gebrechlichkeitssyndrom („Frailty“) sollten in aussagekräftigen Studien einbezogen werden bzw. sich in weiterer Folge in entsprechenden Therapieempfehlungen niederschlagen, fordert Wirnsberger.

Laut ihm sollten geriatrischen PatientInnen weniger Medikamente verschrieben werden – die Schwelle liege bei fünf Präparaten, ab denen es signifikant vermehrt zu Nebenwirkungen (Interkonnex) kommt. Wirnsberger empfiehlt die sogenannte „MAI-Liste“ („Medication Appropriateness Index“) – zahlreiche Studien haben gezeigt, dass de facto bei älteren, multimorbiden PatientInnen mit einer fortgeschrittenen Funktionseinschränkung jedes zweite Medikament abgesetzt werden könnte.

Mit der altersassoziierten Zunahme von chronischen Krankheiten steigt auch das Risiko für Pflegebedürftigkeit. Aus diesem Grund sollten Ärztinnen und Ärzte die RisikopatientInnen gezielt danach evaluieren, denn Gebrechlichkeit per se hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Morbidität und Mortalität. Solche geriatrischen Syndrome kommen häufig vor und zeichnen sich durch eine multifaktorielle Pathogenese aus. Dies mache multidisziplinäre Therapieansätze nötig und wertvoll: in Medizin, Pflege, Ernährung und Bewegung.

Die Zukunft einer gut funktionierenden geriatrischen Versorgungsstruktur muss darin bestehen, Allgemeinmedizin neu zu denken. Wichtig sei, die klinische Schwelle zu heben und auf eine bessere Funktionalität der alternden PatientInnen sowie eine interprofessionelle Ausbildung der MedizinerInnen und Pflegekräfte hinzuwirken. Wirnsberger weist darauf hin, dass hierfür in Graz bereits an einem „Innovationszyklus“
gearbeitet wird.

Als ein best practice-Beispiel für eine optimale Versorgungsstruktur weist er auf das Kölner Projekt „EliPfad“ hin, das geriatrischen PatientInnen unter telemedizinischer Begleitung mit smarten Assistenten eine  personalisierte, interdisziplinäre Versorgungsstruktur bietet. Alle betroffenen – extern oder intern tätigen – medizinischen Berufsgruppen schauen gleichzeitig auf einen Patienten oder eine Patientin. Das vor-
rangige Ziel dabei: älteren Menschen trotz ihrer Multimorbidität und Funktionalitätseinschränkung ein selbstständiges Leben im häuslichen Umfeld zu ermöglichen. In dieselbe Richtung geht das heuer erstmalig in Graz angebotene Diplom für Geriatrie und Palliativmedizin der ÖÄK, die mit den Ausbildungsinhalten den Gedanken „Altersmedizin ist Teamarbeit“ unterstützt.

Kenntnisse, Fortbildung, Therapieziele Die Herausforderung der alternden Gesellschaft sei ein disruptives, medizinisches Versorgungssystem, eine integrative Versorgung sowie das Schwerpunktthema Funktionalität (plus Verrechenbarkeit nach dem ICF-Katalog). Das Thematisieren in Fortbildungen der Ärztekammern helfe sehr, denn die große Gruppe geriatrischer PatientInnen sei (gesundheits)politisch zu
schwach vertreten, um nachhaltig auf sich aufmerksam zu machen.

Das Ziel in der Behandlung chronischer Krankheiten alter PatientInnen müsse eine Verbesserung der Funktionalität sein, da man nur so den Betroffenen Mühen und Pflegeaufwand erspare und ihnen mehr Lebensqualität gebe. Das Pflegeheim als letzte Option: Präventiv empfehlen sich alternsgerechte Wohnungsverhältnisse und eine mobile Pflege. Denn allein schon ein Ortswechsel bedeutet meistens Funktionseinbußen – im gewohnten Umfeld lebt es sich am angenehmsten und weniger risikobehaftet.

Besonders wichtig sei das biologische Alter, denn auch ein multimorbider, funktionell eingeschränkter 30-jähriger Mensch kann bereits ein geriatrischer Patient sein, so Wirnsberger abschließend. 

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