Von Dr. Peter Kowatsch | Dr. Florian Connert | Prof. Dr.med. Thomas Kühlein | med.ium 11+12/2024
Darunter versteht man die Verhinderung unnötiger, potenziell schädlicher Medizin, also die Verhinderung von Überdiagnostik und Übertherapie. Es soll aber nicht der Eindruck entstehen, dass es tendenziell nur eine Überversorgung gibt. Natürlich gibt es auch Bereiche, wo Patienten unterversorgt sind. Es ist sogar so, dass die Überversorgung durch Vergeudung personeller und finanzieller Ressourcen zur Unterversorgung beitragen kann. Die OECD stellt fest, dass mindestens ein Fünftel der Gesundheitsleistungen nicht nur wenig bis keinen Beitrag zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung leistet, sondern, im Gegenteil, sogar Schaden anrichten kann (OECD und European Observatory on Health Systems and Policies 2017).
Faktoren, die einen wesentlichen Einfluss auf die Menge diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen haben:
Weltweit gilt die Evidenzbasierte Medizin (EbM) als der Standard guter Medizin. Nach ihren Prinzipien sollten Arzt und Patient gemeinsam auf Basis zu erwartender Effektstärken von Nutzen und Schaden, wie die wissenschaftliche Evidenz sie liefert, individuelle Entscheidungen treffen. Die Frage aber ist, kennen Ärzte diese Effektstärken überhaupt? Zwei wissenschaftliche Übersichtsarbeiten zeigten, dass sie diese in der Regel leider nicht kennen und, wenn man sie schätzen lässt, die Effektstärken des Nutzens medizinischer Maßnahmen überschätzt und ihr Schaden unterschätzt wird (Hoffmann JAMA 2015,175; 274-286). Das Ergebnis kann nur Überversorgung sein.
Ein anderer Grund ist der Confirmation Bias. Diese Art Verzerrung bezeichnet die Neigung, Informationen so zu ermitteln, auszuwählen und zu interpretieren, dass die eigene (ärztliche) Erwartung erfüllt wird. Zum Beispiel führt persönliche Erfahrung oft zu einer Überschätzung der Wahrscheinlichkeit einer Diagnose, wenn es eine Erinnerung an einen Fall gibt, der unglücklich verlaufen ist oder wenn gar wegen des Übersehens einer Diagnose eine Anzeige erstattet wurde. Das führt leicht dazu, dass eine extensivere Abklärung (z. B. Bildgebung, Labor) erfolgt als notwendig oder eine Therapie (z. B. Antibiotika) nur zur eigenen Absicherung verschrieben wird. Es geht dabei häufig um befürchtete „medicolegale“ Folgen. Man nennt dieses Phänomen auch „defensive Medizin“. Das heißt, es werden diagnostische und therapeutische Entscheidungen nur getroffen, um ja nichts zu übersehen und nicht juristisch angreifbar zu sein.
Der am besten beforschte Bereich, was Vermeidung von Überdiagnostik und Therapie betrifft, ist die Prävention. So sind beispielsweise Gesundheits-Checks, Mammographiescreening, Koloskopiescreening, Prostatakrebsscreening, Hautkrebsscreening oder Primärprophylaxe kardiovaskuärer Ereignisse durch Statine wissenschaftlich sehr intensiv bearbeitet. Der Nutzen dieser prophylaktischen Maßnahmen ist leider überschaubar. Gleichzeitig zeigt sich gerade bei nahezu allen Krebsfrüherkennungsprogrammen ein erheblicher Schaden durch Überdiagnostik. Die Realität ist, dass vor allem Menschen, die generell gesünder und sozial abgesicherter sind, also ein jeweils niedriges Risiko haben, zu den Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen gehen, während die mit dem höchsten Risiko dies nicht tun. Man nennt dieses Phänomen das „inverse care law“. Vielfach werden zusätzliche Untersuchungen im Namen der Prävention angeboten, die keinen wissenschaftlichen Kriterien standhalten und nur „auf Wunsch der Patienten“ erfolgen. Grundlage dieser Entscheidungen sind meist Ängste und Hoffnungen, die vielfach auch noch gezielt geschürt werden. Ängste und Hoffnungen werden immer einen Teil medizinischer Entscheidungen ausmachen, da es sich nun einmal um menschliche Entscheidungen handelt. Genau deshalb fordert die EbM, einerseits Evidenz im Sinne realistischer Abschätzung von Bedrohung sowie, wie oben ausgeführt, realistische Maße der Effektstärken von Nutzen und Schaden medizinischer Maßnahmen als Entscheidungsgrundlage beizusteuern, um dann in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess zur individuell richtigen
Entscheidung zu kommen.
Ein weiteres Beispiel für Überdiagnostik ist die präoperative Diagnostik. Österreichweit wurde das PROP-Schema (PRäoperative Befundung bei elektiver OPeration) eingeführt, das klare, wissenschaftlich evaluierte Algorithmen für eine sinnvolle präoperative Diagnostik vorgibt. Alle Hausärzte können diese Untersuchung anbieten. Die Realität schaut aber so aus, dass von vielen Spitälern wesentlich umfangreichere und die Patienten zusätzlich belastende Untersuchungen verlangt werden, die nachweislich keine zusätzliche Sicherheit bringen.
Die Gesundenuntersuchung ist eine sehr gute Möglichkeit, mit Patienten über realistische Gesundheitsgefährdungen und Strategien zu sprechen und diesen zu begegnen. Die Möglichkeit für alle, sich ab 18 Jahren bis zum Lebensende jährlich untersuchen zu lassen, entspricht nicht den Erkenntnissen der Forschung. Effiziente Prävention sollte risikoabhängig und altersgemäß aufgestellt werden. Es ist weder sinnvoll, junge gesunde Menschen ohne relevantes Risiko jährlich zu untersuchen, noch bei alten Menschen Untersuchungen zu machen, die auf Primärprävention ausgerichtet sind. Ein wesentlich besserer Weg wären dem jeweiligen Alter angepasste Untersuchungen zur Erfassung entsprechender Risikofaktoren (z. B. Osteoporose, Fehlernährung, Fraility), um entsprechende präventive Maßnahmen rechtzeitig setzen zu können.
Es gibt eine zunehmende Ressourcenknappheit im medizinischen System. Das hängt vor allem mit der Alterung der Bevölkerung und der damit verbundenen erhöhten Morbidität zusammen. Die Entwicklung in der Medizin geht aber auch immer weiter sehr stark in eine ungerichtete Technologisierung, die zeit- und personalintensiv ist. Ärzte verbringen sehr viel Zeit damit, Befunde zu erheben, die Patienten nur bedingt gesünder machen, und wieder andere Ärzte sind damit beschäftigt, diese Befunde zu sichten, zu ordnen und zu verwalten. Viele Ärzte verbringen einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit vor Bildschirmen. Wäre es nicht wesentlich effizienter, wenn die Diagnostik auf ein sinnvolles, evidenzbasiertes Maß reduziert werden würde? Das würde den Ärzten die Zeit zurückgeben, sich den Patienten zuzuwenden und Sinn und Unsinn medizinischer Maßnahmen mit ihnen zu diskutieren. Das gegenwärtige Abrechnungssystem bestraft jedoch eine solche Zuwendungsmedizin (die dem System viel Geld sparen könnte) und belohnt jene, die möglichst viele technische Leistungen erbringen.
Die große Aufgabe bei der Versorgung von Multimorbidität ist die Kunst des Weglassens und die Beschränkung medizinischer Interventionen auf für den Patienten Relevantes. Vor dem Hintergrund stetig zunehmender diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten erfordern die Bedürfnisse einer älterwerdenden Gesellschaft für den Einzelnen oft nicht mehr Diagnostik und Therapie, sondern eine verantwortungsvolle Begrenzung medizinischer Interventionen. Diese Begrenzung sollte sich am Leiden und den persönlichen Zielen der Patienten orientieren. Therapeuten neigen aber dazu, ihre Patienten aufgrund ihrer persönlichen Einstellungen und Erfahrungen und nicht nach Evidenz und altersgemäß zu beraten.
Wirkmechanismen und Indikationen von Medikamenten sind ein essenzieller Anteil des medizinisch praktischen Wissens. Das kluge Absetzen von Medikamenten ist immer noch ein Stiefkind der Medizin. Der international etablierte Schlüsselbegriff hierfür ist „Deprescribing“. In das Absetzen von Medikamenten sollte mindestens so viel Sorgfalt, Wissen und Überlegung fließen wie in deren Verschreibung.
In der Medizin gibt es erfreulicherweise große Fortschritte in der Behandlung von schweren und auch seltenen Erkrankungen. Vielen Patienten kann mit neuen Technologien geholfen werden. Das hat zwar einen Einfluss auf die Gesamtsterblichkeit, aber bei weitem nicht in dem Ausmaß wie von Ärzten und Patienten angenommen. Viel entscheidender ist die Genetik, der Lebensstil und die Lebensumstände. Darum muss das Thema Gesundheitsförderung in eine ärztliche Beratung einbezogen werden. Mehr dazu in einer der nächsten med.ium Ausgaben.