Medium Digital » Newsdetail

„Primärversorgung neu denken – Die Allgemeinmedizin zwischen Anspruch, Realität und Aufbruch“

Dr. Peter Kowatsch, Hausarzt in St. Gilgen, Bezirksärztevertreter im Flachgau, Vorstandsmitglied der Salzburger Ärztekammer und Vorsorgereferent, ist seit über 25 Jahren Mitglied der Salzburger Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin, einer Teilorganisation der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (ÖGAM). Seit über 15 Jahren engagiert er sich im ÖGAM-Präsidium. Im März 2025 wurde er zum Präsidenten gewählt.

Von Georg Fuchs | med.ium 3+4/2025

med.ium stellt dem neuen ÖGAM-Präsidenten drei prägnante Fragen zur Zukunft der Allgemeinmedizin in Österreich.

med.ium: Die Einführung des Facharztes für Allgemein- und Familienmedizin gilt als Meilenstein. Aber was muss sich darüber hinaus strukturell ändern, damit Allgemeinmediziner*innen in der Versorgung nicht nur am Papier, sondern auch real als Rückgrat des Systems wahrgenommen und eingesetzt werden? Welche Perspektiven haben Sie bei Systementwicklung und Versorgung?

Kowatsch: Der Facharzttitel ist eine Wiedergeburt der Allgemeinmedizin. Die ÖGAM hat sich intensiv mit dem Thema befasst und maßgeblich zur Einführung des Facharztes für Allgemein- und Familienmedizin beigetragen. Unsere enge Zusammenarbeit mit der Bundessektion Allgemeinmedizin in der Österreichischen Ärztekammer war dabei besonders erfolgreich. Der neue Facharzt war ein gemeinsames Ziel. Viel Einsatz galt der Überzeugung der relevanten Stakeholder von der Notwendigkeit einer verbesserten Ausbildung. Ein zentrales Anliegen der ÖGAM war die Erarbeitung konkreter Vorschläge zu den Ausbildungsanforderungen. Die bisherige Ausbildung wurde den Anforderungen moderner Allgemeinmedizin nicht mehr gerecht, denn Allgemeinmedizin ist komplexer geworden. Das erfordert breites Wissen und Erfahrung. 
Wir erwarten, dass künftig besser ausgebildete und fachlich gestärkte Allgemeinmediziner*innen in die Versorgung eintreten und sich mehr junge Kolleg*innen für das Fach entscheiden. Moderne technische Untersuchungsmethoden wie der Ultraschall müssen selbstverständlich in die Ordinationen integriert werden. Der ärztliche Nachwuchs wird deutlich besser vorbereitet sein, um Patient:innen professionell zu begleiten und zu leiten.

Ich halte es auch für wesentlich, dass wir junge Kolleg*innen als Fachassistenzärzt*innen und nicht länger als Lehrpraktikant*innen bezeichnen.

Zu den Perspektiven: Die Rolle der Allgemeinmedizin verändert sich. Hausärzt*innen verstehen sich traditionell als erste Ansprechpartner für ihre Patient*innen. Doch durch die zunehmende Spezialisierung ist die Versorgung fragmentiert und nicht mehr effizient. Ohne Kontinuität und einem ganzheitlichen Zugang kann die Bevölkerung nicht optimal betreut werden. Studien zeigen klar: In einem hausarztzentrierten Versorgungssystem sind Patient*innen gesünder und leben länger in guter Gesundheit.

Ich sehe die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems nur dann als sinnvoll, wenn Hausärzt*innen als echte „Primärärzt*innen“ definiert und eingebunden sind. Die allgemeinmedizinische Versorgung muss so aufgestellt sein, dass alle Menschen in Österreich Zugang zu einem Hausarzt oder einer Hausärztin haben. Ballungsräume brauchen andere Modelle als dünn besiedelte Regionen – das ist essenziell für gute Gesundheitsplanung. Es braucht eine Kombination aus Primärversorgungseinrichtungen (PVEs) und Einzelordinationen mit hoher Funktionalität und entsprechender Unterstützung durch die Sozialversicherung. Eine gute allgemeinmedizinische Versorgung erfordert auch klare Vorgaben und Verbindlichkeiten für die Ärzteschaft. Unser Ziel muss sein, Fachärzt*innen gezielt zu entlasten, damit sie sich wieder rascher um akute Fälle kümmern können – und sich die Terminlage verbessert.

med.ium: Der neue Facharzttitel soll also ein Signal an den ärztlichen Nachwuchs senden. Aber reicht ein neuer Titel, um die Allgemeinmedizin als attraktive Karriereoption zu positionieren – oder braucht es zusätzlich neue Ausbildungs- und Rahmenbedingungen?

Kowatsch: Wir dürfen uns nicht auf dem Facharzttitel ausruhen. Er kann nur Ausgangspunkt für einen Qualitätssprung in der Allgemeinmedizin sein. Wir sind nun fachlich klar definiert und strukturiert ausgebildet: Unsere Kernkompetenzen sind die Primärversorgung, die personenbezogene Medizin, die spezifischen Problemlösungsfertigkeiten, der umfassende Ansatz und die Gemeinschaftsorientierung in einem ganzheitlichen Modell. Das ist die Basis für Weiterentwicklung – hin zu einer noch qualifizierteren medizinischen Grundversorgung. Die Kolleg*innen verfügen über ein breites Spektrum an Fähigkeiten, um moderne Hausarztmedizin zu leisten. Das eröffnet Patient*innen neue Möglichkeiten für eine umfassende, hochwertige Versorgung durch ihre Hausärzt*innen.

med.ium: Welche Rolle sieht die ÖGAM künftig für sich selbst? Wird die Allgemeinmedizin als akademisch-wissenschaftliche Disziplin künftig aktiver in gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse eingebracht? Wo sehen Sie die Stellung der Allgemeinmedizin im Diskurs mit Politik, anderen Fachrichtungen und der Öffentlichkeit?

Kowatsch: Wir können die politischen Entscheidungsträger wie das Gesundheitsministerium, die Sozialversicherungsträger und die Ärztekammer künftig noch stärker bei Bedarf mit fachlicher Expertise unterstützen. Die ÖGAM wird zudem die allgemeinmedizinische Forschung an den Universitätsinstituten weiter vorantreiben. Ein zentrales Anliegen ist es auch, die Universitäten stärker in die postpromotionelle Ausbildung einzubinden, mit dem Ziel, die Qualität und Effizienz der Primärversorung auszubauen, was der gesamten Bevölkerung zu Gute kommt.
Mir ist es zudem wichtig, die interkollegialen Fortbildungen – also Qualitätszirkel – auszubauen. Sie bieten hervorragende Möglichkeiten, allgemeinmedizinisches Wissen praxisnah zu vertiefen. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Fachgesellschaften bei der Entwicklung von Leitlinien sowie die stärkere Vernetzung mit den Landesgesellschaften für Allgemeinmedizin stehen auf unserer Agenda. Es liegt viel Arbeit vor uns – aber auch große Chancen.

Die ÖGAM bietet unter anderem Fortbildungen, Unterstützung und Informationen über die Zukunftsperspektiven des Fachs. Wir denken, dass dies ein wichtiger Beitrag ist um die Allgemeinmedizin weiterzuentwickeln und heißen weitere KollegInnen in der „ÖGAM-Familie“ jederzeit herzlich willkommen.

Mehr Infos:

ÖGAM-Mitglied werden: