Von Dr. Florian Connert | Prof. Dr.med. Thomas Kühlein | Dr. Peter Kowatsch | med.ium 5+6/2024 | 14.6.2024
„Vorbeugen ist besser als heilen.“ (Christoph Wilhelm Hufeland, 1762–1836) Stimmt dieser Satz wirklich immer?
Die therapeutischen Möglichkeiten bei früher als unheilbar geltenden Erkrankungen wie z. B. Krebs haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark weiterentwickelt, während dies bei der Prävention nicht in gleichem Maße gelungen ist. Doch warum ist das so?
Um diese Frage zu beantworten, muss man sich mit dem Wesen präventiver Maßnahmen auseinandersetzen, die sich in vier Phasen einteilen lassen: Primäre, Sekundäre, Tertiäre und Quartäre Prävention. Nur wenn uns die Limitationen und deren Mechanismen bewusst sind, können wir Wege finden, Prävention noch wirksamer werden zu lassen.
Zu diesen Mechanismen zählen das „inverse care law“, das „Präventionsparadox“ und Besonderheiten der Wahrscheinlichkeitstheorie im Nierdrigprävalenzbereich wie das „Bayes-Theorem“. Wie andere diagnostische und therapeutische Interventionen, so müssen auch präventive Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin evaluiert und ggf. angepasst werden.
Am liebsten würden wir einfach gar nicht krank werden. Das können wir uns aber nicht aussuchen. Die zweitbeste Lösung scheint die Prävention von Krankheit, also Erkrankungen vorzubeugen oder sie zumindest früh zu erkennen und damit schwere Verläufe und Todesfälle zu verhindern. Das wünschen sich Patient*innen und Ärzt*innen gleichermaßen. Unserem Gesundheitssystem wird oft vorgeworfen, zu wenig Augenmerk auf Prävention zu legen, und stattdessen hauptsächlich „Reparaturmedizin“ zu betreiben. Tatsächlich haben sich die therapeutischen Möglichkeiten bei vielen früher als unheilbar geltenden Erkrankungen wie z. B. Krebs in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch weiterentwickelt und verbessert, während uns dies bei der Prävention nicht in gleichem Maße gelungen ist. Doch warum ist das so? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich mit dem Wesen präventiver Maßnahmen auseinandersetzen. Nur wenn uns die Limitationen und deren Mechanismen bewusst sind, können wir Wege finden, Prävention noch wirksamer werden zu lassen.
Es gibt verschiedene Einteilungen der Prävention, eine gängige geht auf den belgischen Hausarzt Marc Jamoulle zurück (Abbildung). Jamoulle stellte dabei die Krankheit als menschliches Leiden („sich krank fühlen“, engl. illness) der Krankheit als ärztliche Diagnose (engl. disease) gegenüber. Beides kann vorhanden sein oder nicht.
Als Primäre Prävention kann man medizinische Maßnahmen an Gesunden ohne Vorliegen von Leiden oder Diagnose bezeichnen, wie z. B. Untersuchungen zur Krebsfrüherkennung oder Empfehlungen zu gesunder Lebensweise. Primäre Prävention ist populationsbezogen und macht vor allem dann Sinn, wenn sie möglichst große Teile der Bevölkerung erfasst. Der Nutzen für den Einzelnen bleibt dabei meist gering. Gesunde sind eben schwer gesünder zu machen. Der Effekt zeigt sich erst auf Bevölkerungsebene. Die wichtigste Form der Primärprävention ist eine dem Menschen angemessene Lebensweise, u. a. in Form einer ausgeglichenen Ernährung und ausreichend körperlicher Bewegung. Zur Primärprävention gehören aber auch z. B. Impfungen und Gesundheits-Checks.
Bei der Sekundären Prävention liegt ebenfalls noch keine Erkrankung im Sinne eines spürbaren Leidens vor und doch tauchen auf einmal Diagnosen auf. Sekundäre Prävention setzt ein, wenn beispielsweise im Rahmen von Gesundheits-Checks Risikofaktoren wie arterielle Hypertonie, Hypercholesterinämie oder Diabetes mellitus Typ 2 gefunden werden. Hier verschwimmen durch willkürliche Grenzziehungen die Unterschiede zwischen Risikofaktoren, Krankheitsvorstadien und Krankheit. Die Grenzziehungen für die Indikation zur medikamentösen sekundären Prävention unterliegen einer Tendenz hin zu immer niedrigeren Schwellenwerten. Dabei wird die tatsächliche Bedrohung durch einzelne Risikofaktoren von Patient*innen und Ärzt*innen häufig ebenso überschätzt wie die Effektstärken der meisten präventiven medikamentösen Maßnahmen.
Bei der Tertiären Prävention ist ein Leiden fühlbar geworden, der Schaden, wie z.B. ein Myokardinfarkt, ist bereits eingetreten und es geht darum, die Krankheitsfolgen zu minimieren sowie zu verhindern, dass diese Ereignisse erneut eintreten (wobei das bereits einmal aufgetretene Ereignis meist der stärkste Prädiktor für dessen erneutes Auftreten ist). Hier befinden wir uns im Hochrisikobereich und je höher das Risiko für ein Ereignis ist, desto höher ist auch der Nutzen präventiver Maßnahmen. Während in der sekundären Prävention an vielen Stellen wahrscheinlich zu viel des Guten erfolgt, wird in der tertiären Prävention oft zu wenig getan.
Die Quartäre Prävention widmet sich schließlich der Verhinderung nutzloser oder, besser, nicht bedarfsgerechter Medizin. Dieser Bereich der Prävention umfasst nach Jamoulle den Schutz vor Überdiagnostik und Übertherapie. Dass mehr Medizin nicht immer mehr Sicherheit und Gesundheit bedeutet, sondern auch schaden kann – diese Erkenntnis beginnt sich erst langsam, aber immer mehr durchzusetzen. Ein weiterer Artikel hierzu folgt in der nächsten Ausgabe des Medium.
Welche Mechanismen führen nun dazu, dass Prävention häufig nicht die erwarteten und gewünschten Effekte bringt? Als „inverse care law“ bezeichnet man die Beobachtung, dass diejenigen, die am wenigsten der medizinischen Hilfe bedürfen, die Gebildeten und sozial Privilegierten, sie oft am meisten in Anspruch nehmen und umgekehrt. Dieser Umstand, nämlich dass wir in der Primär- und Sekundärprävention die Personengruppen mit dem höchsten Risiko – also diejenigen, die auch am meisten von diesen präventiven Maßnahmen profitieren würden – nur in geringem Ausmaß erreichen, stellt einen wesentlichen, limitierenden Faktor für deren Effekt dar.
Je höher das Krankheitsrisiko, desto größer ist auch der Nutzen einer präventiven Maßnahme. Häufig verteilen sich solche Risiken – wie z.B. der Cholesterinwert – normal in der Bevölkerung, d.h. nach einer Gaußschen Verteilung (Abbildung 2). Einer kleinen Gruppe mit hohem Risiko steht eine große Gruppe mit moderatem und kleinem Risiko gegenüber. Die kleine Gruppe mit hohem Risiko profitiert individuell am meisten von einer präventiven Maßnahme. Aber weil die Gruppe so klein ist, hat das kaum Auswirkung auf die Gesamtzahl der zu verhindernden Ereignisse. Konzentriert man sich aber auf die große Gruppe mit geringem Risiko, ist der individuelle Nutzen gering und der Effekt zeigt sich erst auf Populationsebene. Dieses Phänomen bezeichnet man als Präventionsparadox.
Kein diagnostischer Test ist so gut, dass er die absolute Wahrheit ans Licht bringt. Jeder Test produziert neben sog. Richtig-Positiven und Richtig-Negativen auch Falsch-Positive und Falsch-Negative. Nach dem Bayes-Theorem hängt bei Vorliegen eines positiven Testergebnisses die Wahrscheinlichkeit für das tatsächliche Vorhandensein einer Erkrankung nicht nur von der Sensitivität und Spezifität des Tests ab, sondern auch von der Vortestwahrscheinlichkeit, also von der Prävalenz der Erkrankung in der Bevölkerung. Wenn man also einen großen Teil der Bevölkerung auf das Vorhandensein einer relativ seltenen Erkrankung hin untersucht (sog. Niedrigprävalenzbereich), wie dies z.B. beim Krebsscreening der Fall ist, so führt dies unweigerlich zu einer hohen Zahl falsch positiver Befunde, die die Zahl der richtig positiven Befunde meist bei Weitem überwiegt.
Jedem entdeckten Krebsfall steht also eine Gruppe Gesunder gegenüber, die ein positives Testergebnis erhalten, aber gar keinen Krebs haben oder nie daran verstorben wären. Eine solche Überdiagnostik verursacht bei den Betroffenen nicht nur psychischen, sondern im Fall weiterer invasiver Diagnostik und Therapie auch physischen Schaden.
Mit dem Einzug der „Evidence Based Medicine“ wurden präventive Maßnahmen zunehmend in großangelegten, randomisierten Studien auf ihren Nutzen untersucht. Die Ergebnisse sind zum Teil ernüchternd und widersprechen dem in der Ärzteschaft bisher Gelehrten und Geglaubten. Auch in der Bevölkerung besteht ein großer Glaube in die „Vorsorge“, also der Idee, durch regelmäßige Untersuchungen z.B. Krebs „vorsorgen“, also verhindern, zu können. Richtigerweise sollte man in diesem Zusammenhang von „Früherkennung“ sprechen (außer bei der Vorsorge-Coloskopie).
Die Studien liefern uns verlässliche Daten, auf deren Basis wir mit unseren Patient*innen Nutzen und Risiko solcher Maßnahmen besprechen und dann zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen können. Wichtig ist es hierbei, ergebnisoffen zu beraten und die Entscheidung des Patienten wertfrei zu akzeptieren und mitzutragen.
Andererseits erwarten sie aber auch eine deutlich höhere Wirksamkeit einer präventiven Maßnahme, wie z.B. der lebenslangen Einnahme eines Medikaments, um diese zu akzeptieren. Ein solches „shared decision making“ kann zu individualisierten und tragfähigen Entscheidungen führen, bei denen die Verantwortung fair zwischen Ärzt*in und Patient*in geteilt wird. Das ärztliche Gespräch mit guter Beratung und Gesundheitsförderung stellt eine nicht zu unterschätzende Ressource dar, die bei einem rein technischen Blick auf die Untersuchungen oft vernachlässigt wird.
Umfassend gedacht und gezielt eingesetzt kann Prävention ein sehr wirksames Instrument im Gesundheitssystem sein. Wie andere diagnostische und therapeutische Interventionen, so müssen auch präventive Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin evaluiert und ggf. angepasst werden. Erwiesene Wirksamkeit und gute Kommunikation erhöhen die Akzeptanz solcher Maßnahmen in der Bevölkerung. Es liegt also an uns, Hufelands Satz Wirklichkeit werden zu lassen.
Teil 1 von 2. Der zweite Teil „Quartärprävention“ erscheint im med.ium Ausgabe 7+8/2024