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Interview: "Wir müssen endlich ehrlich über unser Gesundheitssystem reden"

Interview mit Dr. Matthias Vavrovsky, MBA, Präsident der Salzburger Ärztekammer. Der 37-jährige Facharzt für Innere Medizin und klinische Onkologie ist seit Juni 2025 Präsident der Salzburger Ärztekammer. Ein Gespräch über Herausforderungen, falsche Solidaritäts-Debatten und Salzburgs Rolle im österreichischen Gesundheitswesen.

Von Georg Fuchs | med.ium 7+8/2025


med.ium: Herr Dr. Vavrovsky, Sie wurden am 26. Juni von der Vollversammlung zum neuen Präsidenten gewählt. Wie haben Sie sich in der neuen Rolle eingefunden?

Vavrovsky: Ich bin der Vollversammlung dankbar für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Die Annahme dieses verantwortungsvollen Amtes war eine wohlüberlegte Entscheidung und ich konnte mich bereits entsprechend einarbeiten. Die durchwegs positive Resonanz der Kollegenschaft bestätigt unseren Weg.

Meine Herangehensweise basiert auf der strukturierten Denkweise eines Internisten und dem vernetzten Blick eines Onkologen. Als Internist habe ich gelernt, komplexe Probleme systematisch zu analysieren. Die Onkologie erfordert zusätzlich schnelles Reagieren, interdisziplinäre Teamarbeit und ehrliche und faktenbasierte Kommunikation. Diese Eigenschaften übertrage ich in meine Kammerarbeit. 

Dazu kommt meine jahrelange Erfahrung in der Standespolitik und ein starkes Netzwerk engagierter Kolleginnen und Kollegen – in Salzburg und darüber hinaus.

Als Präsident sehe ich meine Hauptaufgabe darin, die Ärztekammer nach außen zu vertreten und intern für Zusammenhalt zu sorgen. Wir vertreten die Interessen der Salzburger Ärzteschaft – wir setzen uns sowohl für ihre Rechte als auch ihre Verantwortung ein.

Gleichzeitig sichern wir durch Qualität und berufliche Standards die medizinische Versorgung. Diese doppelte Rolle macht unsere Arbeit bedeutend.

“Als Präsident sehe ich meine Hauptaufgabe darin, die Ärztekammer nach außen zu vertreten und intern für Zusammenhalt zu sorgen. Wir vertreten die Interessen der Salzburger Ärzteschaft – wir setzen uns sowohl für ihre Rechte als auch ihre Verantwortung ein.”

med.ium: In Ihrer Antrittsrede sprachen Sie von der "gestaltenden Kraft" der Ärztekammer. Was meinen Sie damit?

Vavrovsky: Die Ärztekammer soll das Gesundheitssystem aktiv mitgestalten – nicht nur verwalten. Als Vertretung der Ärztinnen und Ärzte bringen wir Fachwissen und Erfahrung ein, um gute Lösungen für die Zukunft zu entwickeln. Diese Kompetenz müssen wir offensiv einbringen.

Dafür ist Zusammenhalt nötig. Nur wenn alle Ärztinnen und Ärzte gemeinsam auftreten – egal ob im Spital oder in der Praxis, ob mit Kassenvertrag oder als Wahlarzt – können wir etwas bewegen. Wir haben unterschiedliche Perspektiven, aber ein gemeinsames Ziel: beste medizinische Versorgung für unsere Patientinnen und Patienten und gute Arbeitsbedingungen für uns selbst.

med.ium: Wenn Sie das österreichische Gesundheitssystem in seiner Gesamtheit betrachten - was sind die prägenden Charakteristika und wie gehen wir mit den aktuellen Herausforderungen um?

Vavrovsky: Unser Gesundheitssystem zeichnet sich durch spezifische Charakteristika und Merkmale aus, die man nicht isoliert als Stärken oder Schwächen betrachten sollte. Wir haben ein solidarisches System mit freier Arztwahl, Patientenautonomie und einem freien Berufsstand der Ärztinnen und Ärzte. Wir sind föderal organisiert und haben eine Mischfinanzierung - das ermöglicht uns Spitzenmedizin. 

In letzter Zeit gab es auf praktisch alle diese Merkmale Angriffe. Man kritisiert die freie Arztwahl als leistungs- und kostenfördernd, den Föderalismus als ineffizient, die Mischfinanzierung als unsolidarisch. Aber wenn wir diese Elemente angreifen, könnten wir genau das schwächen, was unser System stark macht.

Die zentrale Herausforderung ist die Ressourcenproblematik: Unsere Gesellschaft wird älter und kränker, die Leistungsnachfrage steigt, während die Mittel begrenzt sind. Die kontinuierlichen Effizienzsteigerungen haben ihren Preis: Unsere Kolleginnen und Kollegen erreichen ihre Belastungsgrenzen. Das zeigt sich in messbaren Auswirkungen wie verkürzte Verweildauern, erhöhte Patientenzahlen und sinkende Vergütung pro Einzelleistung.

Gleichzeitig beträgt das Gesundheitsbudget bereits 52 Milliarden Euro – das sind 11,8 % des BIP. Mehr Geld allein ist wird nicht die alleinige Lösung sein– wir müssen vorhandene Mittel klüger einsetzen.

Das funktioniert nur, wenn jeder seine Verantwortung im System trägt: Patientinnen und Patienten können durch Prävention, gesunde Lebensweise und bewusste Inanspruchnahme medizinischer Leistungen ihren Beitrag leisten. Wir Ärztinnen und Ärzte sollten zwischen medizinisch indizierten Leistungen und subjektiven Patientenwünschen differenzieren. Politik und Sozialversicherungen sollten Entscheidungen über Ressourcenverteilung und Rationierungen überdenken und transparent kommunizieren, anstatt diese Verantwortung auf die Arzt-Patienten-Beziehung abzuwälzen.

med.ium: Salzburg hat eine neue Digitalisierungsstrategie und es wird über Patientenlenkung diskutiert. Ihre Meinung?

Vavrovsky: Digitalisierung ist ein Werkzeug – kein Selbstzweck. Technische Lösungen müssen in der Praxis funktionieren. Dafür brauchen wir Ärztinnen und Ärzte schon bei der Entwicklung, nicht erst am Schluss.

Bei der Patientenlenkung setze ich auf positive Anreizsysteme statt regulatorischer Zwangsmaßnahmen. Unser 141-Hausärztenotdienst demonstriert diesen Ansatz erfolgreich. Telemedizin wird angenommen, wenn sie einen echten Mehrwert für Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten bietet. Auch die Hotline 1450 hat Potenzial, wenn sie bedarfsgerecht und qualitativ hochwertig arbeitet.

Meine Vision umfasst intelligente Terminkoordination, verbesserte Vernetzung zwischen den Versorgungsebenen und digitale Kommunikation ohne Medienbrüche.

Wichtig ist aber: Technik darf das persönliche Arzt-Patienten-Gespräch nicht ersetzen, nur unterstützen. Dieses Vertrauensverhältnis bleibt die Basis guter Medizin.

med.ium: Bei der ÖGK-Diskussion wird immer wieder gefragt, wie solidarisch unser Gesundheitssystem noch ist. Besonders die Privatmedizin steht in der Kritik.

Vavrovsky: Diese Debatte beruht auf einem Missverständnis und ist wenig konstruktiv. Sie basiert auf falschen Annahmen über unser Gesundheitssystem.

Die Realität zeigt ein anderes Bild: Private Zusatzversicherungen stabilisieren unser System, anstatt es zu gefährden. In Salzburg fließen jährlich Millionen Euro aus Sonderklassen-Honoraren direkt an die Krankenhausträger - Mittel, die medizinische Geräte, Infrastruktur und Personal für alle Patientinnen und Patienten mitfinanzieren. Wahlärztinnen und -ärzte erfüllen eine Entlastungsfunktion für Kassenordinationen und Spitalsambulanzen.

Besonders problematisch ist, dass durch diese Diskussion bei manchen Menschen der völlig falsche Eindruck entsteht, sie würden ohne Zusatzversicherung eine minderwertige Versorgung erhalten. Das entspricht nicht der Realität - alle Patientinnen und Patienten in Österreich erhalten medizinische Spitzenversorgung, unabhängig von ihrer Versicherung.

Diese Debatte ist auch eine ungerechtfertigte Kritik an unseren Kolleginnen und Kollegen im Kassensystem und in den Krankenhäusern, die täglich hervorragende Arbeit leisten.

Echte Solidarität bedeutet, alle verfügbaren Ressourcen intelligent zu nutzen, um optimale Versorgung für alle zu gewährleisten. Das österreichische Gesundheitssystem funktioniert gerade deshalb, weil es verschiedene Finanzierungsquellen sinnvoll kombiniert. Diese bewährte Mischfinanzierung zu hinterfragen, schadet der Solidarität mehr, als sie zu fördern.

“Die Salzburger Ärztekammer will diesen Weg mitgehen: Probleme erkennen, gemeinsam Lösungen erarbeiten und Veränderungen solidarisch umsetzen. Wir wollen aktiv gestalten, nicht nur reagieren.”

med.ium: Salzburg wird oft als positives Beispiel im Gesundheitswesen genannt. Was funktioniert hier gut?

Vavrovsky: Das besondere Engagement unserer Ärzteschaft ist ein Erfolgsfaktor, genauso wie unser partnerschaftliches Verhältnis zu Land und Sozialversicherungen. Diese konstruktive Zusammenarbeit ermöglicht es uns, pragmatisch statt ideologisch zu agieren. Erfolgreiche Modelle entwickeln wir weiter, ineffiziente passen wir an.

Wir setzen auf Evolution statt Revolution. Das österreichische Gesundheitssystem zeigt hohe Leistungsfähigkeit - trotz aller Diskussionen über Reformen braucht es intelligente Weiterentwicklung, nicht ständige unreflektierte radikale Umbrüche. Dieser pragmatische Ansatz ist bewährte Tradition der Salzburger Ärztekammer.

“Interessensvertretung und Standesorganisation sind unsere Kernaufgaben. Nur wenn unsere Kolleginnen und Kollegen gute Arbeitsbedingungen und standesrechtliche Sicherheit haben, können sie optimale Patientenversorgung leisten.”

med.ium: Welche Botschaft haben Sie an Ihre Kolleginnen und Kollegen?

Vavrovsky: Wir als Ärztekammer stehen an Ihrer Seite. Die Herausforderungen sind groß: Alternde Gesellschaft, Fachkräftemangel, Finanzdruck. Aber wir haben das Wissen, die Erfahrung und die Strukturen, um Lösungen zu finden.

Die Salzburger Ärztekammer will diesen Weg mitgehen: Probleme erkennen, gemeinsam Lösungen erarbeiten und Veränderungen solidarisch umsetzen. Wir wollen aktiv gestalten, nicht nur reagieren.

Unsere Mitglieder sollen vor allem merken, dass die Kammer für sie da ist - in der Interessensvertretung, bei praktischen Fragen des Berufsalltags und als kompetente Behörde.

Interessensvertretung und Standesorganisation sind unsere Kernaufgaben. Nur wenn unsere Kolleginnen und Kollegen gute Arbeitsbedingungen und standesrechtliche Sicherheit haben, können sie optimale Patientenversorgung leisten.

Vielen Dank für das Gespräch.