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Aus- und Fortbildung

Der Einstieg in die Welt der Altersmedizin

Aus unserer Serie "Altersmedizin"

Von Prof. Gerhard Wirnsberger | Mag. Christoph Schwalb | med.ium 1+2/2024 | 20.2.2024

Die Bevölkerungsstruktur in Europa ist einem tiefgreifenden Wandel unterworfen und wird auch in Österreich das Gesundheits- und Sozialgefüge nachhaltig beeinflussen. Während die Anzahl der jüngeren Bevölkerung kontinuierlich abnimmt, ist in den nächsten Jahrzehnten mit einem dramatischen Anstieg des Anteils älterer Menschen zu rechnen.

In Österreich leben rund 8,9 Millionen Menschen, davon sind bereits mehr als 1,7 Millionen älter als 65 Jahre. Nach Berechnungen von Statistik Austria wird die Bevölkerungszahl bis 2050 auf 9,5 Millionen anwachsen, die Zahl der über 60-Jährigen wird sich in diesem Zeitraum fast verdoppeln.

Vom Alter zur Krankheit

Diese Zunahme des Lebensalters ist allerdings verbunden mit einer Zunahme von Lebensjahren in Krankheit und Multimorbidität. Assoziiert mit dieser Multimorbidität finden sich im höheren Lebensalter auch mehr Menschen mit funktionellen Einschränkungen und Behinderungen, die sehr häufig zu sekundärer Pflege- und Betreuungsabhängigkeit führen.

Andererseits ist die „moderne“, stark spezialisierte Medizin mit ihrer Fokussierung auf einzelne Krankheiten („Organreparatur“) auf die komplexen Probleme multimorbider Patienten nur unzureichend vorbereitet.

Deshalb ist es angebracht, Klarheit über die Bedürfnisse geriatrischer Patient*innen in allen Versorgungssettings zu erhalten. In rezenten Studien konnte gezeigt werden, dass in einem Aus- und Fortbildung
vernetzten geriatrischen System neben einer deutlichen Verbesserung der Selbständigkeit und Lebensqualität dieser Patienten, abhängig von der Versorgungsstruktur, Kosteneinsparungen bis zu 20 % möglich sind.

Zwar muss für ältere Menschen die ganze Breite der modernen Heilkunst zur Verfügung stehen, diese sollte aber nur nach einer Bewertung der individuellen (!) Notwendigkeit umgesetzt werden. Diese personalisierte“ Medizin erfordert neben einer fundierten geriatrischen Ausbildung viel Erfahrung, Einfühlungsvermögen und einen von Vertrauen getragenen kontinuierlichen Dialog aller medizinischer Fachkräfte mit den betroffenen Patient*innen und ihren Angehörigen.

Funktionalität erhalten ein Leben lang

In einer Gesellschaft, in der die Lebenserwartung stetig steigt, wird die Erhaltung der Funktionalität im Alter zu einer immer wichtigeren Aufgabe. Es geht darum, älteren Menschen zu ermöglichen, so lange wie möglich ein selbstbestimmtes und aktives Leben zu führen. Einer der Schlüssel zur Erhaltung der Funktionalität im Alter ist regelmäßige körperliche Aktivität. Übungen zur Stärkung der Muskulatur, Balance und Flexibilität sind entscheidend, um Stürze zu vermeiden und die Mobilität zu erhalten. Programme wie Tai Chi, Yoga und Wassergymnastik sind beliebte Optionen, die auch soziale Interaktion fördern.

Geistige Aktivität spielt eine ebenso wichtige Rolle. Aktivitäten wie Lesen, Schachspielen, Rätsel lösen oder das Erlernen neuer Fähigkeiten tragen dazu bei, das Gehirn zu stimulieren und kognitive Funktionen zu erhalten. Studien zeigen, dass lebenslanges Lernen das Risiko für Demenz und andere kognitive Beeinträchtigungen reduzieren kann.

Lesen, Schach, Rätsel: das Gehirn stimulieren und kognitive Funktionen erhalten

Eine ausgewogene Ernährung, reich an Proteinen, Vitaminen, Mineralien und Ballaststoffen, unterstützt die allgemeine Gesundheit. Insbesondere die Aufnahme von Kalzium und Vitamin D ist wichtig, um Osteoporose und Sarkopenie vorzubeugen. Wegen des oft fehlenden Durstgefühls sollte man auf eine angemessene Flüssigkeitszufuhr achten.

Soziale Interaktionen und ein unterstützendes Netzwerk sind für die Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit im Alter wesentlich. Erlebnisse in Gruppen, ehrenamtliche Tätigkeiten oder auch Hobbys können dazu beitragen, Einsamkeit und Depressionen zu verhindern.

Regelmäßige medizinische Untersuchungen und Vorsorgemaßnahmen sind entscheidend, um Gesundheitsprobleme frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Impfungen, regelmäßige Seh- und Hörtests sowie Zahnkontrollen sind wichtige Bestandteile der Präventionsarbeit.

Gendermedizin – auch in der Geriatrie ein Thema?

Die Gendermedizin ist ein wesentlicher Bestandteil der modernen Geriatrie. Eine geschlechtsspezifische Herangehensweise verbessert die Qualität der medizinischen Versorgung für ältere Menschen erheblich. Durch die Berücksichtigung von Geschlechterunterschieden können Therapien individueller und effektiver gestaltet werden, was zu einer besseren Gesundheit und Lebensqualität im Alter führt. 

Unterschiedliche Muster bei Männern und Frauen: Morbidität, Mortalität und Ansprechen auf Behandlungen

Frauen

Höhere Inzidenz und Todesrate:Wichtige Unterschiede bei Frauen für die klinische Praxis

  • Schlaganfällen im höheren Lebensalter
  • COPD
  • Alzheimer und anderen dementiellen Erkrankungen
  • Chronische Niereninsuffizienz
  • Hypertensive Herzkrankheit

Höhere Inzidenz folgender Erkrankungen:

  • Diabetes mellitus im Jugendalter

Männer

Höhere Inzidenz und Todesrate: Wichtige Unterschiede bei Männern für die klinische Praxis

  • Ischämische Kardiomyopathie
  • Diabetes mellitus im mittleren Lebensalter
  • Malignome an Trachea, Bronchien und Lungen
  • Kolon- und Rektumkarzinome

Höhere Inzidenz folgender Erkrankungen:

  • Schlaganfälle
  • Diabetes mellitus im mittleren Lebensalter

„Eine fundierte geriatrische Ausbildung, viel Erfahrung, Einfühlungsvermögen, Vertrauen und ein kontinuierlicher Dialog sind erforderlich.“

Die Gendermedizin befasst sich mit den Unterschieden in der Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zwischen Frauen und Männern. Diese Unterschiede resultieren aus biologischen und sozialen Faktoren und spielen eine entscheidende Rolle in allen medizinischen Disziplinen, einschließlich der Geriatrie.

Ältere Frauen und Männer zeigen unterschiedliche Muster in Bezug auf Morbidität, Mortalität und Ansprechen auf Behandlungen (siehe Kasten vorherige Seite). Diese Unterschiede sind teilweise auf hormonelle Faktoren, genetische Disposition und Lebensstilfaktoren zurückzuführen.

Eine genderbasierte Herangehensweise in der Geriatrie ermöglicht eine präzisere und effektivere Behandlung. Dies umfasst die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Symptome, die Wahl geeigneter  Medikamente und Dosen sowie die Anpassung von Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen. Beispielsweise reagieren Frauen und Männer unterschiedlich auf bestimmte Medikamente, was man bei der Verordnung und Dosierung berücksichtigen muss.

Um die gendermedizinischen Aspekte in der Geriatrie vollständig zu integrieren, ist eine verstärkte Forschung gefordert. Dies schließt klinische Studien mit geschlechtsspezifischen Analysen ein. Ebenso wichtig ist die Ausbildung von Gesundheitsfachkräften in Gendermedizin, um ein Bewusstsein für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Behandlung älterer Patienten zu schaffen (siehe auch ÖÄK-Diplomlehrgang „Gender Medicine“).

Um einen personalisierten Zugang in unserer medizinischen Arbeit zu etablieren, sollten wir nicht nur altersspezifische Veränderungen, sondern auch gendersensitive Zugänge entwickeln können. Es besteht eine Interaktion der Alterungsprozesse auf allen körperlichen Ebenen, welche Männer und Frauen für das Auftreten unterschiedlicher Erkrankungen unterschiedlich prädisponiert, aber auch wahrscheinlich die Mortalität geschlechtsspezifisch beeinflusst. Unabhängig von der geschlechtsspezifischen Inzidenz einiger Erkrankungen sind Frauen in der Überzahl im fortgeschrittenen Lebensalter funktionell beeinträchtigter. Die Berücksichtigung dieser Aspekte in unserer klinischen Arbeit kann Spitalszuweisungen und Pflegeabhängigkeit verhindern. 

Immunologie und Impfen im Alter

Im Laufe des Lebens erfahren das Immunsystem und seine Funktionen signifikante Veränderungen. Diese immunologische Alterung, auch als Immunseneszenz bekannt, trägt zu einer erhöhten Anfälligkeit älterer Menschen für Infektionen und einer geringeren Wirksamkeit von Impfungen bei.

Die Immunseneszenz ist durch eine Abnahme der Immunantwort gekennzeichnet. Spezifische Veränderungen beinhalten eine verringerte Produktion neuer Immunzellen im Thymus, eine Akkumulation von alternden Immunzellen und eine abnehmende Fähigkeit, auf neue Pathogene zu reagieren (Abbildung 2). Diese Veränderungen führen nicht nur zu einer erhöhten Anfälligkeit für Infektionen, sondern auch zu einem veränderten Entzündungsprofil, das chronische Krankheiten begünstigen kann.

Immunseneszenz: Veränderungen im Immunsystem begünstigen Entzündungen

Impfungen sind ein wesentliches Werkzeug zur Verhinderung von Infektionen. Bei älteren Menschen ist jedoch die Immunantwort auf Impfungen oft schwächer. Dies führt zu einer geringeren Effektivität von Standardimpfungen und einer erhöhten Rate von Durchbruchinfektionen.

Eine Herausforderung besteht darin, Impfstoffe zu entwickeln, die speziell auf das alternde Immunsystem abgestimmt sind. Ansätze hierfür sind höhere Dosen von Impfstoffen, der Einsatz von Adjuvantien zur Verstärkung der Immunantwort und die Entwicklung neuer Impfstrategien.

Die Anpassung von Impfstrategien an das alternde Immunsystem ist ein entscheidender Schritt zur Verbesserung der Gesundheit und Lebensqualität älterer Menschen. Die Forschung muss sich auf die Entwicklung effektiverer Impfstoffe und Impfstrategien konzentrieren, um dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe einen angemessenen Schutz zu bieten.

Zusammenfassung

Die Geriatrie ist ein vielschichtiges medizinisches Fachgebiet, das eine umfassende Betrachtung des Alterns erfordert. Sie beinhaltet die Behandlung von Krankheiten sowie die Erhaltung der Funktionalität und Unabhängigkeit. Darüber hinaus müssen geschlechtsspezifische Unterschiede in der Gesundheit und Krankheit sowie die Herausforderungen der Immunologie und des Impfens im Alter berücksichtigt werden.
Mit dem zunehmenden Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung wird nicht nur medizinisch, sondern auch gesundheitspolitisch die Bedeutung der Geriatrie weiter zunehmen, um die Gesundheit und das Wohlbefinden dieser wichtigen Bevölkerungsgruppe zu fördern.

Mehr Infos:

Kommentar zur Altersmedizin: Univ.-Prof. Dr. Gerhard Wirnsberger

Psychische Erkrankungen/Störungen im Alter

Im höheren Lebensalter treten psychische Störungen häufig auf, werden jedoch oft unterdiagnostiziert und unterbehandelt. Aus geriatrischer Perspektive sind solche Erkrankungen ein zentrales Anliegen, da sie signifikant die Lebensqualität älterer Menschen beeinflussen. Altersbedingte Veränderungen im Gehirn, soziale Isolation, der Verlust von Angehörigen und chronische körperliche Erkrankungen tragen zu einem erhöhten Risiko für psychische Störungen bei.

Die Komplexität bei der Diagnosestellung resultiert teilweise aus der Tatsache, dass ältere Patient*innen Symptome psychischer Erkrankungen oft anders präsentieren als jüngere. Beispielsweise kann sich eine Depression im Alter durch körperliche Symptome wie Müdigkeit oder Appetitlosigkeit äußern, statt durch klassische depressive Verstimmungen. Ebenso können kognitive Beeinträchtigungen durch eine Vielzahl von Faktoren, einschließlich Medikamentennebenwirkungen und somatischen Erkrankungen, beeinflusst sein, was die Diagnose einer Demenz erschwert.

Die Rolle der Geriatrie besteht darin, ein umfassendes Verständnis für die Komplexität psychischer Erkrankungen im Alter zu entwickeln und multidisziplinäre Behandlungsstrategien zu implementieren. Ein ganzheitlicher Ansatz, der sowohl somatische als auch psychosoziale Aspekte berücksichtigt, ist für die effektive Behandlung psychischer Erkrankungen im Alter unerlässlich.

Die Behandlung psychischer Erkrankungen im Alter erfordert einen angepassten Ansatz. Dies umfasst eine sorgfältige Anamnese, die Bewertung der Medikamentenliste auf potenzielle Nebenwirkungen, die Berücksichtigung von Lebensumständen sowie die Einbindung multidisziplinärer Teams. Dies beinhaltet eine enge Zusammenarbeit mit Psychiatrie, Neurologie, Hausärzt:innen und Pflegepersonal, um eine ganzheitliche Versorgung sicherzustellen. Medikamentöse Therapien müssen sorgfältig abgewogen werden, da ältere Menschen empfindlicher auf Nebenwirkungen reagieren und häufig bereits andere Medikamente einnehmen. Nicht-medikamentöse Ansätze wie Psychotherapie, soziale Unterstützung und kognitive Therapien sind ebenfalls von großer Bedeutung.

Die Früherkennung und adäquate Behandlung psychischer Störungen können maßgeblich dazu beitragen, die Lebensqualität älterer Patient:innen zu verbessern und ihre Autonomie so lange wie möglich zu erhalten. Die Bedeutung von präventiven Maßnahmen wie der Förderung sozialer Kontakte und körperlicher Aktivität sowie die Sensibilisierung für die psychische Gesundheit im Alter sind weitere wichtige Aspekte.