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Aus der Kammer

„Der alte Arzt hat ausgedient“

Von Dr. Maximilian Krecu, Turnusärztereferent und Spitalsärztevertreter-Stellvertreter

med.ium 9+10/2023 | 16.10.2023

So wurde schon 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor dem drohenden Generationenkonflikt der Babyboomer und der Generation Y am medizinischen Arbeitsmarkt gewarnt. Seither hat sich der Krisenmodus des österreichischen Gesundheitssystems noch weiter verschärft. Insbesondere die COVID-Pandemie hat in ihren Nachwehen klaffende personelle Lücken im Gesundheitswesen geschlagen, was die Situation für alle „Hinterbliebenen“ weiter zuspitzt.

Hinzu kommt, dass die Jungen nicht mehr willens sind, die Missstände unseres Gesundheitssystems hinzunehmen wie die Generationen vor ihnen. Von den Babyboomern, die für ihre Berufung oft viel opfern  mussten, wird die Generation Y – also die Geburtenjahrgänge der frühen 80er bis späten 90er – oft als konsumorientiert, leistungsunwillig und freizeitbedacht wahrgenommen.

Doch was ist dran am Urteil der Babyboomer über die junge Generation? Was bedeutet das für unser Gesundheitssystem? Und: gibt es noch Wege aus dieser Krise?

Die Babyboomer mussten für ihren Traumjob mehr opfern als die Generation Y

Unbestritten ist, dass sich die absolute Arbeitszeit in den letzten Jahrzehnten drastisch reduziert hat. Dürfen laut KA-AZG in einem 17-Wochen-Durchrechnungszeitraum ohne entsprechende Betriebsvereinbarungen durchschnittlich „nur“ noch 48 Stunden gearbeitet werden, wurde diese Stundenanzahl von den Babyboomern oft an einem einzigen Wochenende absolviert. Werden heute noch maximal 60 Stunden pro Woche im Spital absolviert, entsprach dies vor 30 Jahren wohl eher einer durchschnittlichen Arbeitswoche. Als gesichert angenommen werden kann auch, dass junge MedizinerInnen heute deutlich schneller Ausbildungsstellen bekommen und sich ihre Fächer meist mühelos aussuchen können. War der Arbeitsmarkt der 1980er durch den Überfluss und den Wettbewerb gut ausgebildeter und motivierter ArbeitnehmerInnen geprägt, so hat sich dieser – insbesondere nach der COVIDPandemie und lange vorangekündigt von Demographen – in einen ArbeitnehmerInnen-zentrierten Markt verwandelt. Somit hat sich auch der Konkurrenzdruck abgeschwächt, mit dem junge Menschen in den 1980ern auf den Arbeitsmarkt und in das Gesundheitswesen drängten. Die Zeiten, in denen sich JungmedizinerInnen als GastärztInnen knechten ließen oder Taxi fuhren, sind lange vorbei.

Anekdotisch ergibt sich auch der Eindruck, dass die Babyboomer in ihrer Ausbildung der Willkür und dem Wohlwollen der Primarii und OberärztInnen deutlich mehr ausgesetzt waren. Diese z. T. unbarmherzige Hierarchie scheint sich in den letzten Jahren abgeflacht zu haben.

Die Generation Y arbeitet weniger (Stunden) – aber leistet sie auch weniger?

Zahlreiche Untersuchungen legen mittlerweile eine deutlich gesteigerte Leistungsdichte pro abgeleisteter Stunde nahe. Kongruent dazu belegen zahlreiche Untersuchungen einen stärker erlebten Arbeitsdruck. Dafür gibt es verschiedene Gründe, welche z. T. schwer quantifizierbar sind:

  • Die Arbeitsdichte hat durch den demographischen Wandel, zunehmenden ökonomischen Druck und kürzere Liegezeiten bei steigendem bürokratischem Aufwand zugenommen.
  • Das Patientenkollektiv ist multimorbider, komplexer, aber auch fordernder geworden.
  • Knappe Personalschlüssel sorgen für Belastungen an der Belastbarkeitsgrenze.
  • Hohe Belastungen führen zu vermehrten Krankenständen, welche in einer Abwärtsspirale der Überbelastung münden.
  • Der Exodus insbesondere der Pflegekräfte sowie zunehmende Betten- und OP-Sperren verschärfen den Druck bei steigender Patientenzahl weiter.
  • In dieser Mangelsituation verkommen bisweilen v. a. (aber nicht ausschließlich) AusbildungsärztInnen zu Lückenbüßern, die neben den ärztlichen auch pflegerische und organisatorische Notstände kompensieren müssen.
  • Durch die Digitalisierung ist heute eine permanente Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit Normalität. Begann der Feierabend früher mit Dienstschluss, müssten sich Arbeitnehmer heute zunehmend aktiv abgrenzen. Dies geschieht jedoch aus vielerlei Gründen oft nicht.

Nicht nur die Arbeitsdichte hat zugenommen – auch die Gesellschaft hat sich verändert

Gewandelt hat sich u. a. das Konzept innerfamiliärer Strukturen und des Geschlechterverhältnisses in den Spitälern. War in der Vergangenheit der Mann oft Alleinverdiener, so werden die beruflichen und  familiären Pflichten heute zunehmend paritätisch aufgeteilt.

Weiters ist die Medizin in den letzten Jahren immer weiblicher geworden. Im Jahr 2018 waren 58 Prozent aller Studienanfänger weiblich. 2022 haben sich für den MedAT an der MUW annähernd doppelt so viele Frauen wie Männer (4.992 vs. 2.889) angemeldet. Sowohl die Feminisierung der Medizin als auch die längst überfällige Gleichberechtigung der Geschlechter in der Care-Arbeit wird durch mehr – notwendige – Teilzeitmodelle zu weiteren Engpässen in der Medizin führen.

Auch hat sich verändert, was durch Arbeit leistbar wird: genügte früher ein Gehalt für Hauskauf und Familienunterhalt, so können aktuell keine zwei Arzteinkommen eine 3-Zimmer-Wohnung in Salzburg  finanzieren. Demgegenüber steht eine gesteigerte Leistbarkeit von Reisen, Medien, Kommunikation und zahlreichen anderen Konsumgütern, die jedoch eines erfordern: Freizeit.

Trotz aller Gegensätze – was vereint die Generationen?

Generationsübergreifend sind sich ÄrztInnen einig, dass sie gute Medizin praktizieren und PatientInnen fachlich und menschlich gut betreuen möchten. Die Ypsiloner sehen dies zunehmen im Widerspruch mit den Arbeitsbedingungen in den Spitälern, die sie unmittelbar als gefährlich für die ihnen anvertrauten PatientInnen und mittelfristig auch für  sich selbst als gesundheitsgefährdend wahrnehmen.

Es ist an der Zeit, dass sich Entscheidungsträger in Gesellschaft und Politik aufrichtig und transparent mit der Frage auseinandersetzen, wie die pflegerische und medizinische Versorgung unserer Alten und Kranken in den nächsten Jahrzenten aussehen soll. Dies geht nur über Veränderungen der Arbeitsbedingungen der betroffenen Berufsgruppen.

Welche Lösungsansätze gibt es?

  1. Freispielen und Nutzen der ÄrztInnen für rein ärztliche Tätigkeiten, Aus- und Weiterbildung. Es darf nicht mehr wirtschaftlich sein, dass sich SpitalsärztInnen um Bettenmanagement, Organisation von Bildgebung/Venflonanlagen usw. kümmern, wenn andere Systeme im Krankenhaus versagen. Eine Zweckentfremdung ärztlicher Kapazitäten muss für Spitäler auch wirtschaftlich wieder unattraktiver werden.
  2. Attraktivierung von Pflege durch mehr Entscheidungskompetenzen, bessere Karrieremöglichkeiten und finanzielle Anreize. Eine deutlich bessere Entlohnung gegenüber anderen  Ausbildungsberufen ist dabei dringend erforderlich, um den Pflege-Exodus aufzuhalten und die Pflege wieder zu einem erstrebenswerten Beruf zu machen. Großzügige Personalschlüssel könnten helfen, den Teufelskreis aus Überlastungen und Krankenständen aufzubrechen.
  3. Sinnvolle und ressourcensparende Lenkung der Patientenströme zum Freispielen der Spitalsambulanzen für akute und spezifische Fragestellungen.
  4. Ausbu betriebseigener Tagesstätten, Tagesmutter-Hotlines im Krankheitsfall und eine Betreuung der Kinder in den Schulferien, um arbeitende Mütter und Väter zu entlasten. Prinzipiell könnte man auch hinterfragen, ob knapp 14 Wochen schulfreie Tage/Ferien in einer Gesellschaft, in der oft beide Eltern arbeiten, noch zeitgemäß sind.

Fazit

Die plakative Darstellung der Generationsunterschiede im Gesundheitswesen und die Reduktion der vielfältigen Probleme auf einen Konflikt der „Baby-Boomer vs. Generation Y“ greift zu kurz. Auch ist die Krise des Gesundheitssystems nur vor dem Hintergrund des stattfindenden gesellschaftlichen Wandels mit seinen tiefgreifenden demographischen und soziokulturellen Entwicklungen zu verstehen und zu bewältigen.

Die Jungen sind nicht mehr bereit, die Auswirkungen dieser Krise auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit zu tragen. Der Arztberuf, wie er von früheren Generationen praktiziert wurde, hat somit tatsächlich  ausgedient. Ohne eine entsprechende Attraktivierung von Spitalsärztewesen und Pflege, die nicht an einer deutlichen finanziellen Verbesserung dieser Berufsgruppen vorbeikommt, droht in den nächsten Jahren ein Exodus aus den Spitälern. Zusätzlich werden grundlegende Veränderungen in Arbeitsorganisation, -gestaltung und weiterer Angebote (Kinderbetreuung, Personalwohnungen) notwendig sein.

Was wir brauchen, ist ein Paradigmenwechsel im Gesundheitswesen: weg vom Profitdenken und maximaler Bettenauslastung im Zeichen einer vermeintlichen Wirtschaftlichkeit, wieder hin zu einer  Menschlichkeit für unsere Alten, Kranken und Hilfsbedürftigen.

Quellen:

1 „Der alte Arzt hat ausgedient“, Artikel in der FAZ, 2012: www.faz.net/aktuell/wissen/medizinernaehrung/generation-y-der-alte-arzt-hat-ausgedient-11729029.html 

Sonstige Quellen beim Autor

Generationen-Interview

Dr. Georg Hagn / Dr. Sylvia Selhofer

med.ium: Frau Dr. Selhofer, Herr Dr. Hagn, was ist Ihrer Meinung nach der größte Unterschied zwischen dem Beruf als Arzt/Ärztin heute und vor 30 Jahren?

Dr. Sylvia Selhofer: Der größte Unterschied ist vielleicht, dass die PatientInnen vor 30 Jahren mehr Vertrauen in die ÄrztInnen hatten als es heute der Fall ist. Dadurch war das Arbeiten einfacher. Weiters war auch der Zusammenhalt zwischen Ärztinnen, Pflege und dem sonstigen Spitalspersonal größer. Das Notwendige wurde einfach gemacht, es haben alle an einem Strang gezogen. Aufgrund der klinischen
Untersuchung hatte man mehr Zeit am Patienten, wodurch die Verbindung persönlicher war. Ärztin zu sein war für uns eher eine Berufung als ein Beruf.

Dr. Georg Hagn: Als ich begonnen habe zu arbeiten (2020, Anm. d. Red.), war es für junge Ärztinnen und Ärzte noch deutlich schwieriger, eine freie Stelle für die Facharztausbildung zu bekommen – das hat  sich an manchen Standorten bereits in dieser kurzen Zeit stark geändert.

med.ium: Was ist Ihrer Meinung nach der größte Vorteil und was der größte Nachteil, den die jeweilige Generation im Vergleich zur anderen hat?

Selhofer: Die „Jungen“ haben u. a. den Vorteil, bei Unklarheiten nachzufragen, da mittlerweile das Klima zwischen den AusbildungsärztInnen und Fach-/OberärztInnen/Primar/ia besser ist. Wir waren oft auf uns allein gestellt. Positiv ist sicher auch, dass durch Teilzeit- und Karenzmodelle, sowie der Regulierung der Arbeitszeit heute mehr Zeit für den privaten Bereich bleibt.

Hagn: Der große Vorteil der älteren Generation gegenüber den „Jungen“ ist sicherlich ihr Weitblick bei Krisen bzw. alltäglichen Arbeitsproblemen. Vieles wurde bereits im Laufe der Arbeitskarriere erlebt und  aktuelle Probleme können dadurch häufig leichter relativiert werden. Ein Nachteil könnte eine gewisse fehlende Flexibilität in Bezug auf bestehende Strukturen sein – den „Jungen“ fallen Positions- sowie Arbeitgeberwechsel oft einfacher.

med.ium: Was sind besondere Stärken Ihrer Generationen?

Selhofer: Ganz klar ist eine Stärke der „Jungen“ ihre digitale Affinität. Wir mussten früher Bücher wälzen, um Antworten auf unsere medizinischen Fragen zu finden, heute hat man diese rasch am Handy  gefunden. Wir „Alten“ sind auch heute bei der digitalen Arbeit nicht so schnell wie unsere jungen KollegInnen, die damit aufgewachsen sind. Das finde ich toll, weil hier die „Jugend“ uns unterstützen kann. Unsere Stärke liegt in der jahrelangen Erfahrung.

Hagn: Eine der besonderen Stärken der Generation Y ist bestimmt der problemlose Umgang mit neuen Technologien. Tägliche Routineaufgaben können dadurch oft schnell und einfach ausgelagert werden, um effizienter mit der steigenden Patientenzahl umzugehen.

med.ium: Würden Sie heute wieder Arzt/Ärztin werden?

Selhofer: Das ist eine sehr einfache Frage. Auf jeden Fall, sofort und immer.

Hagn: Natürlich! Kaum ein Beruf ist so vielfältig und flexibel.

med.ium: Wie muss sich das Gesundheitswesen Ihrer Meinung nach verändern?

Selhofer: Die Administration muss deutlich zurückgefahren oder von anderen Berufsgruppen übernommen werden. Zudem müssen wir Antworten auf die immer größer werdende Anzahl an alten, multimorbiden PatientInnen finden. Als Gesellschaft sollten wir uns auch fragen, wie wir mit lebensstilbedingten Erkrankungen umgehen.

Hagn: Meiner Meinung nach wird es essenziell sein, die wachsende Patientenanzahl in Zeiten des Personalmangels gut an die entsprechenden Zuständigkeitsbereiche zu leiten, um so den hohen Standard des österreichischen Gesundheitswesens auch halten zu können.

med.ium: Was sollten die Jungen lernen?

Selhofer: Den „Jungen“ muss der Zugang zur klinischen Erfahrung wieder ermöglicht werden. Stolz können die „Jungen“ darauf sein, diesen fantastischen Beruf gewählt zu haben.

Hagn: Ich denke, wir müssen den Mut haben, uns aktiv für die Interessen unserer Generation einzusetzen. Das heißt mitunterauch, dysfunktionale veraltete Strukturen nicht immer als
gegeben hinzunehmen.

med.ium: Was hat Sie bewogen, Arzt/Ärztin zu werden?

Selhofer: Seit ich mich erinnern kann, war es mein Wunsch, Ärztin zu werden. Das war einfach immer so.

Hagn: In erster Linie die wertschätzende Arbeit am Patienten und die vielseitigen Möglichkeiten der Alltagsgestaltung, die dieses Berufsfeld mit sich bringt.

med.ium: Was kommt Ihrer Meinung nach zu kurz im Arztalltag?

Selhofer: Ich hätte gerne mehr Zeit, um mich nicht nur um das bestehende Krankheitsbild, sondern auch um den Menschen als Ganzes zu kümmern. Viele Patienten brauchen nicht nur eine medizinische Behandlung, sondern einfach ein nettes Wort.

Hagn: Zeit. Die Zeit, um mit Patienten richtig in ein Gesprächzu kommen.

 

Die Fragen stellten Dr. Maximilian Krecu und Mag. Christoph Schwalb