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Altersmedizin und Neurogeriatrie

Aus unserer Serie "Altersmedizin"

Von Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder, Vorstand der Universitätsklinik für Geriatrie Salzburg und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie | Mag. Christoph Schwalb | med.ium 9+10/2024 | 7.10.2024

Neurogeriatrie ist nicht einfach das Übertragen der Erwachsenen-Neurologie auf das hohe Lebensalter, alte Menschen haben andere biologische Voraussetzungen: Das Gehirn gesunder alter Menschen zeigt neuropathologische Veränderungen, die wir von unterschiedlichen Krankheitsprozessen kennen: Diese betreffen Neurotransmission, Neurogenese, Neuroinflammation, Neurodegeneration, Blut-Hirn-Schranke, Myelinisierung und Axone. Dadurch wird das Gehirn auch anfällig für Komplikationen im Rahmen systemischer Erkrankungen, was im erhöhten Delir-Risiko Niederschlag findet. Abnahme der Muskelmasse (Sarkopenie), Zunahme von Fett und Bindegewebe, Änderung von Resorption und Metabolismus von Medikamenten, Co-Morbiditäten, Multimedikation und Frailty stellen zusätzliche Determinanten dar.

Auch der neurologische Status ändert sich im Alter, die Abgrenzung zu physiologischen Altersveränderungen kann schwierig sein: Bei über 80-Jährigen imponieren häufig hypomim-akinetische Phänomene mit gebeugter Körperhaltung (26 %), Ruhetremor (17 %), reduzierte Tiefensensibilität der unteren Extremitäten (20 %), fehlende Muskeleigenreflexe (10 %), positive Pyramidenbahnzeichen (10 %) sowie erhöhter Muskeltonus. Die Bewertung einzelner neurologischer Zeichen erfordert daher stets die Integration in das klinische Gesamtbild.

Ein weiterer Faktor, der die Funktionalität von alten Menschen gefährdet, ist Frailty (Gebrechlichkeitssyndrom): Dies ist ein klinisch definierter Zustand gesteigerter Vulnerabilität als Resultat altersassoziierter Abnahme von Funktion und Reservekapazität verschiedener physiologischer Systeme, der zu einer Beeinträchtigung der Kompensationsfähigkeit von Stressoren führt (z. B. Erkrankungen). Etwa 7 % der 65-Jährigen und 20 % der über 80-Jährigen sind von Frailty betroffen. Wesentliche Kontextfaktoren sind Mangelernährung und Sarkopenie.

Neurogeriatrie betrifft in der Regel über 70-jährige Personen, die an altersassoziierten neurologisch erklärbaren Einschränkungen leiden: Gang, Gleichgewicht, Mobilität, Muskelschwäche, Denken, Sprache, Schlucken und Ausscheidung sind häufig betroffen und beeinträchtigen Alltagsfähigkeit und Lebensqualität. Funktionelle Einschränkungen sind oft das subjektiv führende Symptom. Stürze können intrakranielle Hämatome nach sich ziehen, Sturzangst erschwert als Folge die  Remobilisation. Diagnostik und Behandlung orientieren sich daher am ICF-Modell (Internationale Klassifikation von Funktion, Behinderung und Gesundheit) der WHO (siehe Abbildung), standardisierte Assessments tragen zu Diagnostik und Therapieplanung bei. Ein interprofessioneller Ansatz (Ärzt*innen, Physio- und Ergotherapie, Logopädie, Pflege, Psychologie, Sozialarbeit) gewährleistet eine funktionell orientierte Behandlung.

Folgende neurologische Erkrankungen weisen eine hohe Inzidenz und Prävalenz im Alter auf: Schlaganfall, Demenz, Epilepsie, Parkinsonismus und Polyneuropathie. Besonderheiten zu diesen Krankheitsbildern sind nachfolgend zusammengefasst:

Demenz: Die Erkrankungshäufigkeit der meisten Demenzformen zeigt eine klare Altersabhängigkeit, dies trifft besonders für Alzheimer- und Mischdemenzen zu. Bei 70-Jährigen sind 3-5% betroffen, bei 80-Jährigen 10-12%, bei über 90-Jährigen etwa 30%. Frailty definiert ein höheres Demenz-Risiko, meist auch einen schwereren Verlauf. Frailty beeinflusst auch den klinischen Phänotyp Demenz: Bei identer neuropathologischer Last ist die klinische Symptomatik der Demenz bei frailen Patient:innen deutlicher ausgeprägt. Umgekehrt ist auch eine Demenz mit einem höheren Risiko für Frailty assoziiert. Probleme wie Hörverlust oder soziale Isolation tragen ebenfalls zum Demenz-Risiko bei. Die Prävention von Demenz und Frailty umfasst aktiven Lebensstil, gesunde Ernährung sowie soziale Interaktion: Positive Auswirkungen auf das Gehirn wurden nachgewiesen, z.B. auf synaptische Analoga des Lernens, synaptische Konnektivität, neurotrophe Faktoren und Neurogenese.

Cerebrovaskuläre Erkrankungen: 30% der ischämischen Schlaganfälle treten nach dem 80. Lebensjahr auf, die Inzidenz verdreifacht sich zwischen 65. und 85. Lebensjahr. Im Alter steigt die Zahl cardioembolischer Schlaganfälle, in erster Linie bedingt durch Vorhofflimmern.
In der Akuttherapie ist die rekanalisierende Therapie (intravenös, mechanische Thrombektomie) auch im Alter wirksam und effektiv. Leider ist die Prognose im Alter sowohl quoad vitam als auch quoad functionem ungünstiger: Hohes Alter, Frailty, Hypertonie, ischämische Herzerkrankung und Hyperglykämie sind ungünstige prognostische Faktoren. Kognitive Defizite, Polyarthrosen, Herzinsuffizienz, Lungenerkrankungen, Leber- und Nierenerkrankungen wirken sich ungünstig auf die Rehabilitationsfähigkeit aus. Da der Schlaganfall eine der Hauptursachen für bleibende Behinderung ist, kommt der Prävention enorme Bedeutung zu. Polymedikation, Sturzrisiko und Frailty müssen dabei mit medizinischen Maßnahmen in Einklang gebracht werden.
Auch hämorrhagische Schlaganfälle sind im Alter häufiger, Amyloid-Angiopathie und Antikoagulation stellen Ursachen mit Altersbezug dar.

Epilepsie: Die Inzidenz unprovozierter Anfälle nimmt im Alter zu und übertrifft sogar die des frühkindlichen Alters. Die Ursachen sind vornehmlich vaskulär, neoplastisch und kryptogen.
Die Semiologie fokaler Anfälle ändert sich im Alter: Neben einer geringeren Inzidenz von Auren, psychischen Phänomenen (deja vu, ictal fear etc.) und Automatismen sind auch Generalisierungen seltener (26% vs 65% bei jungen Erwachsenen), eine postiktale Konfusion kann deutlich länger andauern (Tage bis Wochen). Das Risiko für Anfalls-assoziierte Verletzungen ist deutlich erhöht.
Das Spektrum der Differentialdiagnosen umfasst zerebrovaskuläre Erkrankungen, kardiale Probleme (Synkopen, kardiale Arrhythmie, Sick-Sinus), endokrin-metabolische Faktoren (Hypoglykämie, Elektrolytentgleisungen), REM-Schlaf-Verhaltensstörung, aber auch psychogene Anfälle.
Bei der Auswahl der Antiepileptika sind die veränderte Pharmakokinetik und -dynamik, das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen sowie die Gefahr von Folgeschäden wie Osteoporose zu beachten.

Parkinsonerkrankung: Auch die Inzidenz von Parkinsonerkrankungen steigt mit dem Alter an, zwei Drittel der Patient:innen sind über 70 Jahre alt. Von den Kardinalsymptomen Bradykinesie, Rigor, Tremor und posturale Instabilität imponiert im Alter seltener ein Ruhetremor, dafür aber häufiger eine Gangstörung, motorische Fluktuationen und Dyskinesien treten seltener auf. Als first-line-Therapie wird ab dem 70. Lebensjahr aufgrund des Wirkungs-/Nebenwirkungsprofils L-Dopa empfohlen.
Differentialdiagnostisch sind Normaldruckhydrocephalus (Hakim-Trias: Gangstörung, kognitive Beeinträchtigung, Inkontinenz), subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie und Medikamenten-Nebenwirkungen in Betracht zu ziehen. Im Verlauf von ca. 10 Jahren kommt es beim idiopathischen Parkinsonsyndrom zu Aufmerksamkeitsdefiziten, Exekutivfunktionsstörungen und Demenz (30-80%). 16-40% aller Patient:innen entwickeln visuelle Verkennungen, Halluzinationen, Delirien oder paranoide Störungen, gehäuft in hohem Alter oder bei kognitiven Defiziten. Bei 20-60% aller Patient:innen tritt im Alter gehäuft eine orthostatische Hypotension (OH) mit hohem Sturzrisiko auf. Frailty als Co-Morbidität ist mit wiederholten Stürzen, kognitiver Beeinträchtigung, Demenz, OH, Fatigue, Halluzinationen, vermehrtem Bedarf an Institutionalisierung, Abhängigkeit in Alltagsfähigkeiten (ADLs) und erhöhter Sterblichkeit assoziiert.

Polyneuropathie (PNP): Polyneuropathien sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die Prävalenz wird für ältere Populationen mit bis zu 7% angegeben. Im Alter nimmt die Inzidenz der diabetischen PNP zu (30% der Fälle), auch die Zahl der kryptogenen axonalen PNP (CAP) steigt und macht bei den 80-Jährigen 35% der Erkrankungen aus.
Die PNP führt aufgrund der damit assoziierten Störung von Tiefensensibilität und Gangbild zu reduzierter Mobilität, funktionellen Einschränkungen und erhöhtem Sturzrisiko. Für die Interpretation der Auswirkungen der sensiblen Störungen auf die ADLs sind die Untersuchung des Lageempfindens, der Romberg-Test, Seiltänzer-Gang sowie das Gehen bei Augenschluss hilfreich. Eine Beteiligung des autonomen Nervensystems führt zu Blasenentleerungsstörungen, gastrointestinalen Symptomen und OH. Neben der Behandlung der auslösenden Ursachen zielt die symptomatische Therapie auf Schmerz und autonome Störungen.

Zusammenfassung

Neurologische Erkrankungen tragen wesentlich zu Problemen geriatrischer Patient:innen bei. Relevante Erkrankungsentitäten zeigen eine klare Altersabhängigkeit.

Die Therapieoptionen in verschiedenen Lebensaltern unterscheiden sich nicht essenziell, Polymorbidität und Polymedikation definieren ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen, daher ist eine strenge Nutzen-Risiko-Abwägung erforderlich. Eine interprofessionelle, interdisziplinäre, funktionell orientierte geriatrische Sichtweise und standardisierte Assessments erlauben eine ganzheitliche Diagnostik und Therapie.

Geriatrischer Kommentar zum Artikel von Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder

Von Univ.-Prof. Dr. Gerhard Wirnsberger

Im höheren Lebensalter treten spezifische neurologische Probleme wie Gangstörungen, kognitive Defizite und sensorische Beeinträchtigungen verstärkt auf. Diese werden durch altersbedingte Veränderungen des Gehirns, einschließlich Neurodegeneration und entzündlicher Prozesse (Neuroinflammation), verstärkt. Chronische kardiovaskuläre und metabolische Erkrankungen tragen darüber hinaus zu einer erhöhten Vulnerabilität („Frailty“) bei.

Die Neurogeriatrie setzt ein spezialisiertes, interdisziplinär tätiges Fachpersonal ein, die auf die komplexen Bedürfnisse dieser Patient*innen eingehen. Das Ziel ist die Erhaltung der Funktionalität und Lebensqualität durch präventive und
therapeutische Maßnahmen, die auf dem ICF-Modell der WHO basieren. Dabei wird nicht nur die medizinische Behandlung, sondern auch der psychologische und soziale Kontext berücksichtigt. Diese integrative Herangehensweise macht die Neurogeriatrie zu einem anspruchsvollen, aber sehr lohnenden Bereich der Altersmedizin, der viele Forschungs- und Entwicklungsperspektiven bietet.